
Ich habe einen wunderbar hellsichtigen und wunderbar paradoxen Gedanken gelesen. Er lautet: In unserer Wohlstandsgesellschaft sind nicht bedürfnisstillende Mittel knapp, sondern es sind Bedürfnisse knapp. (Ich habe den Gedanken von Gunther Schmidt, aus einem Aufsatz von 1995, und der hat ihn von Günter Anders, nämlich aus dem Buch „Die Antiquiertheit des Menschen“, 1980.)
Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen und genussvoll in seinem Logikprozessor im Hirn zerschmelzen lassen. Normalerweise sind Bedürfnisse etwas, was im Menschen aufläuft angesichts der Knappheit der Dinge, die er zum Überleben oder Sich-Wohlfühlen braucht: Nahrung, Wärme, Sex, Erholung, Anregung/Abwechslung, und was immer es sein mag – das Spektrum ist verfeinerbar, aber nicht beliebig erweiterbar. Wir aber, als Bewohner des 21. Jahrhunderts, haben so viel von allen diesen Dingen, wir sind so voll mit Bedürfnisbefriedigungen und Befriedigungsangeboten, dass wir kaum je mehr dazu kommen, überhaupt Bedürfnisse zu entwickeln. Dass Bedürfnisse selbst knapp sein können, ist eine so auserlesene Paradoxie, dass sie mir – als logikverliebtem Menschen – große Freude macht und mich schon halb über das Problem hinwegtröstet.
Das Problem liegt in der Reihenfolge. Wir kriegen gewissermaßen die Befriedigung vor dem Bedürfnis, und das steht dann unter Umständen dem vollen Genuss an der Befriedigung im Weg. Das ist wie in Schulen, Universitäten, und sonstigen wissensvermittelnden Einrichtungen mit Fragen und Antworten: Wer die Antwort vor der Frage kriegt, wird durch sie nicht klüger. Wer im ersten Semester im Kurs „Wissenschaftliches Arbeiten“ gesagt kriegt, wie man eine Hausarbeit schreibt, bevor er je vor dem Problem des Hausarbeitenschreibens gestanden hat, der hat einen Lerneffekt von Null. Ebenso gilt eben: Wer die Befriedigung vor dem Bedürfnis kriegt, wird durch sie nicht voll befriedigt.
Das kann man für verschiedene Aspekte des Lebens durchbuchstabieren. Fangen wir mal mit Kindern an und arbeiten uns zu erwachseneren Aspekten des Lebens vor.
Kinder werden heute – jedenfalls in der Mittelschicht – mit so vielen Angeboten und Aktionsfeldern versorgt, dass sie kaum mehr Gelegenheit haben, selbst Bedürfnisse zu entwickeln. Beispielsweise das Bedürfnis nach Aktivität und Anregung, genannt „Langeweile“. Das kommt in vielen Kinderleben nicht mehr vor, oder nicht mehr als fünfminutenweise, und dann meist schnell erstickt in irgendeinem Handy oder Hörspiel oder dergleichen. Die kreative Kraft der Langeweile hat so kaum mehr eine Chance. Ähnliches gilt für das Bedürfnis nach Hobbies, oder nach Entdeckung und Entfaltung eigener Interessen und Talente. Auch das dürfte in vielen Fällen kaum mehr zum Zuge kommen, oder jedenfalls ist nicht immer klar, ob die Aktivität von Kindern in Sportvereinen, Musikschulen und ähnlichem auf ihr Bedürfnis zurückgeht oder auf ein Bedürfnis der Eltern. Die Fähigkeit, Bedürfnisse zu spüren und Wege zu ihrer Befriedigung zu finden, hilft später im Leben; sie ist aber nur um den Preis von einigem „Slack“ im Leben, also von etlichen leeren Nachmittagen, leeren Wochenenden, unverplanten Ferienwochen zu erlernen. (Siehe dazu Blog zu „Durchhängen“.)
Von Kindern zu Sex. Als westliche Menschen des 21. Jahrhunderts haben wir reichlich Gelegenheit zu Sex – im Schnitt jedenfalls, wenn auch natürlich ungleich verteilt über die Einzelnen. Wir haben erstens keine Verbote, Prüderien, Gewissensprobleme mehr, wie sie in vielen früheren Gesellschaften herrschten. Wir haben zweitens keine erschwerenden äußeren Bedingungen, wie etwa mittelalterliche Bauersleute sie hatten, denn unverklemmter Sex nach zehn Stunden Feldarbeit in einer ungeheizten Stube fällt schwer. Dasselbe galt für Arbeiter in früheren Arbeiterquartieren Europas (und in vielen Teilen der Welt bis heute), denn unverklemmter Sex in einem beengten Quartier mit mehr als zwei Personen im selben Schlafraum fällt schwer. Wir leben drittens in einer Kultur und unter einer medialen Dauerbestrahlung, die eher übersexualisiert als untersexualisiert ist und idealisierte Bilder und Ideen von Sex verbreitet.
Das führt dazu, dass wir eher unter dem Druck oder der kulturellen Anforderung stehen, häufigen und guten und intensiven Sex zu haben, als unter Hemmnissen und Hindernissen. Letztere aber könnten ein Bedürfnis aufbauen, also sexuelle Begierden, Wünsche, Sehnsüchte – ausgreifende innere Tastbewegungen in eine spätere, unsichere, erhoffte Umsetzung. Die ständige Machbarkeit und Verfügbarkeit steht dem eher im Weg, und sie gilt deshalb Paartherapeuten als eine Quelle der verbreiteten Lustlosigkeit, über die Paare klagen.
Schließlich gilt dasselbe Problem – die Knappheit der Bedürfnisse – natürlich auch für all die Dinge, Waren, Güter der Konsumgesellschaft, inklusive der nicht-materiellen Dinge wie Unterhaltung, Urlaub, Horizonterweiterung. Dass wir hiervor eher zu viel haben, ist offensichtlich. Ich möchte dazu eine kluge Beobachtung von Niklas Luhmann zitieren, der, noch zur Zeit des Ost-West-Konflikts, den Unterschied zwischen westlich-kapitalistischen und östlich-sozialistischen Wirtschaftssystemen auf den Punkt gebracht hat: Im einen System sind Güter knapp und die Konsumenten stehen vor leeren Regalen. Im anderen System sind Käufer knapp und die Kaufhäuser quellen über vor Waren, die sich den Käufern aufdrängen. Es scheint nicht möglich zu sein, so Luhmann, in diesem sehr basalen Punkt ein Gleichgewicht herzustellen, sondern es scheint immer ein Ungleichgewicht in der einen oder anderen Richtung herrschen zu müssen – mehr Käufer als Waren, oder mehr Waren als Käufer. Das ist auch eine subtile Kritik an ökonomischen Gleichgewichtstheorien, über die man mal länger nachdenken sollte.
Was folgt daraus? Ich weiß es nicht. Sicher folgt daraus nicht, dass wir uns in einen Zustand der Knappheit und des Mangels zurückwünschen sollten. Soweit Mangel in der heutigen Gesellschaft sich abzeichnet, wirft er eher die Schatten der Krise und der Verteilungskämpfe voraus als die Verheißung eines glücklichen einfachen Lebens. In den durch Überfluss gesegneten (gezeichneten) Schichten könnte man vielleicht versuchen, ein bisschen künstliche Verknappung an Dingen, Events, Erlebnissen reinzubringen, um in der Folge wieder etwas Anwandlung von Bedürfnis erleben zu können – zum Beispiel: nicht mehr als einmal im Jahr in Urlaub fahren, nicht mehr Sachen kaufen, als ins den Schrank passen, usw. Aber vermutlich übersteigt es unsere menschlichen Fähigkeiten, dem Sog der Befriedigung zu widerstehen, wenn er in Griffnähe ist.
Und wenn Knappheit künstlich hergestellt werden muss, ist sie eben auch nicht mehr das, was sie mal war. Wir können ja vieles herstellen, aber die „Herstellung von Knappheit“ ist dann wohl doch mehr, als man von den ausgefeiltesten Produktionsmaschinen erwarten kann.
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Wahnsinnig gut geschrieben ! War mir eine Freude zu lesen .
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Wir können persönliche Knappheit erreichen, indem wir Dinge abgeben, z.B. verschenken.
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Wie überaus erhellend sind Ihre Gedanken. Ein wirklich wichtiger neuer Denkanstoß – danke!
Wie schwer haben es inzwischen unsere Kinder und Enkel, wenn man noch den informationellen Paradigmenwechsel vom mühsamen dinglichen Suchen zum mühevollen Selektieren in der beliebigen Verfügbarkeit des Internets dazu nimmt.
Zwei Beispiele:
Früher hat man auf eine ersehnte LP /Vinyl oder später CD gespart, sie gekauft, sie ggf, vielfach genossen und beachtet. Auch optisch und haptisch übrigens.
Heute hat jeder die gesamte Musikhistorie mit allen Tontrögern über Streamingdienste gegen geringe Bezahlung sofort verfügbar. Abgesehen von den verheerenden Folgen für die Künstler/innen – wie soll man da noch wertschätzen und sich für etwas begeistern können?
Früher musste man für wissenschaftliche Arbeit mühsam Recherche in Bibliotheken, Artikeln und ggf.. sogar durch persönlichen Kontakt zu den Autor/inn/en betreiben. Heute wird man vom Überangebot und der interessengesteuerten Online-Suche erschlagen.
Ihre ehrliche Ratlosigkeit teile ich auch hier. Das macht alles etwas mit uns und widerspricht völlig den eigentlichen Absichten und tieferen Bedürfnissen, die wir als „Ältere“ noch spüren durften und mehr oder weniger befriedigen konnten.
Und damit den Unterschied noch wahrnehmen und beschreiben können. Das ist so dringend nötig wie nie! Als Medienpädagoge versuche ich in Ansätzen, mit Jugendlichen darauf hinzuarbeiten.
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