
Ich skizziere mal den Vertrag, den ich aufsetzen müsste, wenn ich meinem 6-jährigen Sohn eine halbe Stunde Fernsehen am Tag erlauben will, ohne regelmäßig in Diskussionen, Proteste, Dramen verwickelt zu werden, wenn das mal aus irgendwelchen Gründen nicht geht.
„A. darf jeden Tag eine halbe Stunde fernsehen, außer (a) wenn wir an dem Tag unterwegs sind und so spät heimkommen, dass schon Bettzeit ist; oder (b) wenn er an dem Tag im Kino schon einen ganzen Film gesehen hat; oder (c) wenn er einen Freund zu Besuch hat und mit diesem so lange spielt, dass dann keine Zeit mehr ist; (d) wenn niemand daran gedacht hat, niemand ihn ans Fernsehen erinnert hat, er selbst auch nicht daran gedacht hat und dann erst beim Zähneputzen daran denkt; (e) wenn Stromausfall ist; (f) wenn anderweitig die Welt untergeht; usw. (fortsetzbar)“
Diesen Vertrag könnte ich vermutlich so aufsetzen und wäre dann vor Ungemach gefeit. Nur leider komme ich auf diese Klauseln nicht, bevor ich all mit diesen Eventualitäten in Berührung komme, von denen 90% erst mal zu wütenden Anspruchsdurchsetzungsversuchen führen.
Viele Familien, die ich kenne, leiden unter solchen Wucherungen und quasi-juristischen Konstruktionen aus Ansprüchen, Ausnahmen, Ausnahmekompensationsansprüchen usw. Kinder sind ungeheuer konsequent beim Einklagen von Ansprüchen und ungeheuer findig beim Entdecken von Schlupflöchern und Doppel-Einlösungsmöglichkeiten. (Cum-ex ist nichts dagegen.) Gleichzeitig sind sie ungeheuer uneinsichtig für höhere Rationalitäten, die solche Ansprüche in Einzelfällen unsinnig, unrealistisch, unangemessen machen. Wenn ich einen Vertrag der obigen Art machen müsste, würde ich mich von der besten Anwaltskanzlei der Stadt beraten lassen, und wahrscheinlich würde mein Kind dann immer noch Schlupflöcher und Durchsetzungshebel finden, die darin nicht ausreichend bedacht sind.
Warum ist das so? Teilweise liegt es sicher an unserem zu weichen, zu entgegenkommenden Elternstil. Wir – als wohlmeinende Mittelschichteltern – wollen für unser Kind das Beste, versuchen seine Ansprüche und Wünsche grundsätzlich zu erfüllen und finden relativ wenig harte Beschränkungen, die wir dem entgegensetzen können. Das steigert die Verhandlungskompetenz des Kindes. Wir tappen etwa manchmal in die Falle des Versprechungen-Machens: Wenn ein Kind mit irgendeinem gerade unpassenden Wunsch kommt, sagen wir „Morgen“ oder „Nachher“, ohne ausreichend zu bedenken, was wir morgen oder nachher machen werden, ob dann genug Zeit sein wird, ob dann nicht auch andere Ansprüche und Anforderungen sich geltend machen werden und ob wir mit diesem schnell gegebenen Versprechen uns nicht einen Klotz ans Bein binden, der uns schon ganz bald schmerzhaft auf die Füße fallen wird. Soweit liegt es an uns.
Aber ich glaube, zum größeren Teil liegt es gar nicht an uns. Es liegt an den Kindern. Die sind nämlich ungefähr im Grundschulalter in einem Alter, das Mythenforscher das Alter des „Tricksters“ nennen (siehe dazu, sehr empfehlenswert: Norbert Bischof, Das Kraftfeld der Mythen). Der Trickster – eine Figur, die in den Mythen vieler Völker vorkommt – ist ein Schelm, der durch die Lande zieht, Abenteuer erlebt, Begegnungen macht und dabei beeindruckend schlau und lernfähig, aber auch eigentümlich fremd und ungebunden ist. Er ist irgendwie ein nicht ganz ernst zu nehmender Knirps und irgendwie ein erstaunlich furchtloser Geselle, der die Geister nicht fürchtet, sich mächtigen Kräften entgegenstellt und meistens irgendeinen Kunstgriff findet, um ihnen etwas abzuluchsen oder wenigstens: ihnen zu entwischen und ihrer Strafe zu entgehen.
Psychologen nennen die Entwicklungsstufe dieses Alters auch die konkret-operative. Es ist die Phase, in der das Kind Weltzusammenhänge verstehen und für sich nutzbar zu machen lernt, und in der es sich auf seinen Verstand zu verlassen lernt. Dazu gehört, dass man keinen Respekt vor sankrosankten Größen hat und dass man die Dinge möglichst buchstäblich versteht, um ihnen die Übermächtigkeit und Unbeherrschbarkeit zu nehmen. Kinder dieses Alters beißen sich etwa gern an Worten fest und sagen Dinge wie: „Ich bin nicht gerannt, ich bin nur schnell gelaufen!“, so wie ja auch Pippi Langstrumpf dem durchtrainierten Zwei-Meter-Mann mit Bodybuilder-Muskeln entgegnet: „So, du bist der stärkste Mann der Welt? Na gut, aber ich bin das stärkste Mädchen der Welt!“, und ihn mit einer Hand in die Ecke schleudert.
Der Trickster lässt sich durch den Geist des Gesetzes nicht binden, allenfalls durch den Buchstaben des Gesetzes. Das führt dazu, dass er in vielerlei Zwangslagen irgendwelche praktische Auswege und Hintertürchen finden kann – zum Beispiel, wenn er ein Spiel verloren hat, irgendeinen Aspekt findet, unter dem er „eigentlich“ doch gewonnen hat oder gewonnen haben könnte. Es führt aber eben auch dazu, dass er – zum Leidwesen der Eltern, die im Mythos nicht vorkommen – für allgemein vernünftige Überlegungen und gesunden Menschenverstand nicht zugänglich ist, sondern jederzeit auf seinen irgendwo festgeschriebenen und irgendwann zugesagten Rechten beharrt.
Wir können also davon ausgehen, dass die kleinen Nachwuchsjuristen in unseren Familien, die uns in den Wahnsinn treiben, Trickster sind. Wenn das bis in die Mythologie der Völker dieser Erde abgesickert ist, können wir annehmen, dass Kinder dieses Alters einfach so sind. Das liegt in ihrer Natur oder in der Natur ihrer Entwicklungsstufe.
Wie geht man aber nun damit um? Wie behilft man sich, wenn man einen Trickster im Haus hat? Gegen die Entwicklungsstufe an sich kann man natürlich nichts tun. Aber man kann eine passende Reaktion darauf finden. Denn: Nichts verpflichtet uns, einem Trickster in der Art der Trickster zu antworten. Wir können auch eine radikale andere, entgegengesetzte, komplementäre Haltung einnehmen, und das ist in diesem Fall die Haltung der verbindlichen und unerschütterlichen Beziehungsorientierung. Der Trickster hat sich auf schlaue Weltbeherrschung und gewieftes Manövrieren spezialisiert. Deshalb brauchen wir als Gegenpol eine Haltung von liebevoller Verbindlichkeit, Geradlinigkeit und Unablenkbarkeit.
Wir sagen also nicht: „Das mit dem Fernsehen gilt nicht, weil heute Ausnahmeregelung a, b oder c greift; dafür darfst du dann morgen doppelt so lange; und außerdem hast du ja auch gestern nicht deine Spielsachen aufgeräumt, deshalb kann ich auch heute das mit dem Fernsehen ausfallen lassen.“ Wir lassen uns gar nicht erst auf die Ebene der Klauselpflückerei ein; auf diesem Feld ist uns das Kind sowieso überlegen. Statt dessen sagen wir: „Hör zu. Du darfst viel, und ich will, dass du glücklich bist, aber es geht nicht, dass die ganze Familie in ihrer Zeitplanung sich danach richten muss, dass du deine halbe Stunde am Tag fernsehen kannst.“ Oder so was in der Art. Wir formulieren die Beziehungsrelevanz der Sache – klar und freundlich und unirritierbar durch Details –, denn das ist es ja, was uns daran stört und mitnimmt und was auf der Ebene der Klauseln nicht ausreichend abgebildet ist.
Es ist nämlich nicht so, dass das Trickster-Kind unzugänglich für Beziehungsbotschaften wäre. Das Kind lebt von Geburt an eng in Beziehungen, und alle anderen Entwicklungsstufen vor und nach der Trickster-Stufe sind sowieso von Beziehungsproblemen beherrscht. Das Kind ist also keineswegs auf dem Beziehungsohr taub. Es ist nur so, dass das gerade nicht die Art ist, wie es selbst auf die Welt zugeht oder sich mit der Welt auseinandersetzt. Aber wenn wir – als die großen Mächte, die in seiner Welt vorkommen – uns entschieden in einer anderen Art damit auseinandersetzen, wird es das hören und in vielen Fällen auch angemessen beantworten.
Es ist dies ja auch das Alter, in dem Kinder sagen: „Ich hab dich lieb, weil du mir den Roller mit den Leuchträdern gekauft hast“, und nicht „Ich hab dich lieb!!“. Aber das verstehen wir ja auch richtig, wir drücken das Kind, freuen uns an seiner Freude am Rollern und rücken nebenher und unmerklich seine Beziehungsbotschaft gerade, die natürlich im Kern nicht auf den Leuchtradroller, sondern auf die sichere Bindung an liebevolle Eltern zielt.
Moral: Ein Trickster auf der Welt ist genug, zwei sind zuviel. Wer schon einen Trickster in seiner Welt hat, der wähle für sich eine andere Rolle.
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So schön, deine Gedanken, Deine analytische Klarheit und die tollen Beispiele. Ich habe jetzt ein super Rollenmetapher für die früheren Aushandlungseskapaden meiner Kinder, sie waren als Trickster unterwegs.
Sie studieren jetzt beide und die Energie des Tricksters hat einen neuen Fokus, den der Uni, Freundeskreis, Gesellschaft. Aber wenn sie diese Diskussionen nach Hause tragen, dann ist immer noch Tricksterqualität da. Und ich merke gerade, wie stolz ich darauf auch bin.
Die wunderbare Figur und die damit einhergehenden Finessen des Tricksters bedient (so meine schnellschusshypothese) eher das archaische Bedürfnis nach Autonomie (ich will mich entwickeln und wachsen und es alleine tun können). Das beherrschen die meisten Kinder in bewundernswert kluger und kreativer Weise. Während das Beziehungsangebot als elterliche Reaktion das Bedürfnis nach Zugehörigkeit anspielt. Das ist die bestmögliche Begleitung des Kindes, beide Bedürfnissen im Fokus zu haben und ihnen deren Notwendigkeit anzuerkennen und gerecht zu werden. Das finde ich das wichtige an Deinem Gedanken, das eine zu tun – und damit eine Entscheidung zu treffen – ohne das andere abzuwerten.
Das ist die Daueraufgabe von Eltern, die richtigen Entscheidungsprämissen herzustellen. Das tust du mit Deinem Text.
Danke für Deine inspirierenden Gedanken,
Herzliche Grüße
Antje
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Ja, ich stimme total zu, dem Gedanken mit dem Autonomie- vs. Zugehörigkeitsbedürfnis. Die Kinder müssen ja auch unabhängig werden, und wir müssen eben irgendwie dagegenhalten. Druck und Gegendruck …
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