
Während des ersten Lockdown vor einem Jahr, mit kompletten Schulschließungen und noch unterentwickelter Online-Beschulung, war in den Parkrändern und Böschungsstreifen unserer Städte ein interessantes Phänomen zu beobachten. Überall schossen kleine selbstgebaute Hütten und Tipis in die Höhe. Kinder und teilweise auch Eltern eigneten sich diese sonst unbeachteten Brachflächen an und verwandelten sie in eine Oase der Kreativität.
Es geht hier nicht um eine Bewertung der Lockdown-Maßnahmen und ihrer Wirkung auf Eltern und Kinder. Es geht nur um einen Blick auf diese Tipis und was sie uns, abgesehen von Corona, über das Leben unserer Kinder verraten. Denn jene Tipis zeigen, dass es plötzlich „Slack“ im Leben der Kinder gab, also Zeit und freie Kapazität auf der Suche nach Betätigungsmöglichkeiten. „Slack“ – auf deutsch: „Puffer“ – ist ein Begriff aus der Organisationswissenschaft, der die partielle Erlaubnis zum Durchhängen, zum Nicht-voll-angespannt-Sein bezeichnet. Gemeint sind ungenutzte oder nicht voll ausgenutzte Kapazitäten in der Organisation, also Reserven an Personal, Material, Räumen oder Wissen. Solche ungenutzten Kapazitäten sind immer in Gefahr, von Effizienzspezialisten wegrationalisiert zu werden. Aber wenn sie überleben, erweisen sie sich immer wieder als höchst nützlich und sinnvoll. In Krisen und Transformationsprozessen werden sie plötzlich entdeckt und für allerlei unvorhergesehene Zwecke nutzbar gemacht, sie verwandeln sich dann in einen Überlebens- und Erfolgsfaktor.
Was man an den Tipis sehen kann, ist: Im Leben unserer Kinder fehlt „Slack“, wenn nicht gerade ein Lockdown ist. Warum haben sie die Gebüschstreifen nicht immer schon zum Tipibauen benutzt? Weil ihr Leben oft so voll ist wie das von Nachwuchsmanagern und Nachmittage, wo sie nichts anderes zu tun haben, als sich im nächstgelegenen Gebüschstreifen herumzutreiben, so selten sind wie ein Steinpilz in der Sahara. Dabei können sie an solchen Nachmittagen sehr wertvolle Dinge lernen, Dinge, die ihnen keine Schule und kein Förderprogramm dieser Welt beibringen kann – etwa die Lust am Weltentdecken, das Zutrauen zum Ideenentwickeln, die Fähigkeit zum Umgang mit Langeweile und zur Selbstorganisation.
Mittelschichtkinder des 21. Jahrhunderts werden mit Förder- und Freizeitprogrammen oft geradezu überschüttet. Sport, Musik, Kultur, Feiern, Ferien – alles soll optimal gepflegt, genutzt, gefördert werden. Historisch gesehen schaffen wir damit den Ausgleich zur Situation vor, sagen wir, hundert Jahren, als Kinder oft zu wenig Angebote und Aufmerksamkeit bekamen, weil schlicht keine Zeit und kein Geld da waren und Kinder mit ihren Anliegen ganz zum Schluss kamen. Perfekte Förderung ist aber gar nicht unbedingt das, was Kinder brauchen. Sie brauchen in allererster Linie Raum und Zeit zum Wachsen und Sich-Ausprobieren, und das setzt „Slack“ voraus. Weiter brauchen sie Eltern, die ihnen ein Vorbild an Zufriedenheit und balanciertem Leben geben und nicht nur als Chauffeur, Manager und Bürokraft zur Verfügung stehen.
Freizeitprogramme für Kinder sind in sich nicht schlecht, aber sie führen leicht in eine Unendlichkeit des Ausnutzenmüssens und Nichtsverpassendürfens. Es gibt immer mehr Angebote, als man nutzen kann, mehr Sportarten, als man betreiben kann, und es gibt immer irgendein Nachbarskind, das über irgendein tolles Event berichten kann, das es besucht hat und das den Wunsch weckt, es auch zu erleben. Die Kinder werden dadurch zwar nicht überfordert, wohl aber über-fördert. Sie bekommen – historisch ganz neuartig – tendenziell zu viel Angebote und Förderung, und ein bisschen Nachlassen hilft.
Glücksforscher sagen, die wichtigste Voraussetzung für Lebensglück ist die Fähigkeit, sich an kleinen Dingen zu erfreuen und mit dem, was man hat, zufrieden zu sein. Denn sonst kann man sich immer nach der nächstgrößeren Wohnung, dem nächstgrüneren Garten und der nächstweiteren Urlaubsreise sehnen, man steckt in einem unaufhörlichen „Schneller, Weiter, Höher“ fest und wird nie wirklich glücklich, egal wieviel man hat. Deshalb brauchen Kinder für ihr späteres Lebensglück nicht die Geigenstunde, das Capoeiratraining und den Experimentierkurs (außer natürlich, sie haben ein starkes, selbst geäußertes Interesse an Geige, Capoeira oder Experimentieren). Sie brauchen viel eher die Erfahrung, dass man auch in einem 20 mal 100 Meter großen Gebüschstreifen an einer Schnellstraße einen glücklichen Nachmittag verleben kann.
Ein Kommentar zu “Der Mut zum Durchhängen”