
Wer heute 16 oder 20 ist, dem macht die Gesellschaft ganz schön verrückte Ansagen. Dies ist ein Versuch, ein bisschen Gegengift anzubieten, also die Verrücktheit erst mal aufzudecken und ein bisschen dahinterzuleuchten.
Der verrückte Text kommt uns normalerweise ganz normal vor, weil wir ihn schon so oft gehört haben. Er lautet in etwa so. Sei du selbst! Sei speziell! Sei was Besonderes! Wisse, wer du bist und was du willst! Mach dein Ding! Leb dein Leben, und lass es auf jeden Fall ein besonderes, außergewöhnliches Leben werden! Zweifle nicht an dir! Glaub an dich und vertrau auf dich!
Woher aber soll man wissen, wer man ist, wenn man 16 ist und weder der Charakterprofil-Test noch der Berufsprofil-Test eine Antwort gibt? Woher soll man wissen, was man will, wenn es Tausende von Berufswegen und Optionen gibt, die man einschlagen kann, und Tausende von Problemen, die der Welt um die Ohren fliegen? Wie soll man speziell sein, wenn es allein in der eigenen Klasse zwanzig andere gibt, die auch speziell sein wollen? Wie soll man an sich glauben und nicht an sich zweifeln, wenn die Welt voller Poser und Profile ist, die zeigen, wie wahnsinnig gutaussehend und erfolgreich und selbstbewusst andere Menschen sind?
Wenn Millionen von Menschen gesagt wird, dass sie außergewöhnlich sein sollen, kann man misstrauisch werden. Es gab mal eine Werbung für einen Mobilfunkanbieter, die unter dem Spruch lief: „Weil du einzigartig bist!“ Ein Handytarif, der für Millionen Menschen derselbe ist, und er wird beworben mit dem Spruch „Weil du einzigartig bist?“ Geht’s noch? Für wie bescheuert hält uns die Gesellschaft eigentlich?
Angesichts solcher Sprüche kann man sagen: Die Gesellschaft betreibt einen Kult des Individuums, und wir alle sind die Zielgruppe. Wir alle – das sind die Insassen heutiger westlicher Gesellschaften. In früheren Gesellschaften war das nicht so, und in China oder Indien ist es das immer noch nicht. Dort steht das Kollektiv im Zentrum, und niemand käme auf die Idee, den Einzelnen zu permanenter Selbstprofilierung aufzufordern. In Europa früher – gar nicht so lange her – lebten die Menschen ebenfalls vor allem als Mitglied einer Gruppe. So hießen beispielsweise in bestimmten Familien immer alle „Franz“ oder „Annerl“, weil da immer schon alle „Franz“ oder „Annerl“ geheißen hatten, seit Generationen, und das auch gut so war. Der Job dieser Leute war es, den Hof oder Handwerksbetrieb der Eltern zu übernehmen und ansonsten nicht weiter aufzufallen, nicht: sich selbst zu verwirklichen und ihr eigenes Leben zu optimieren.
Es geht also auch anders. Und das ist nicht ein bloßer historischer Abschweifer, sondern es trägt eine Botschaft für uns heute. Denn wenn die Menschen den größten Teil der Menschheitsgeschichte lang zufrieden als Mitglied einer Gruppe gelebt haben und nicht als einzigartige, ganz besondere Individuen, dann heißt das ja, dass es nicht am Menschen liegt, wenn wir heute so sehr in unserer Einzigartigkeit und Besonderheit gefragt sind. Es ist nicht so, dass der Mensch einfach so individuell ist und die Gesellschaft ihn lässt, weil sie so großzügig ist.
Es ist vielmehr umgekehrt so, dass der Mensch anfängt, sich als besonders und einzigartig zu verstehen, weil die Gesellschaft das verlangt. Warum verlangt die Gesellschaft das? Weil sie so groß und schnell und bunt und komplex geworden ist, dass sie überfordert damit wäre, jedem Menschen einen Platz im Leben und einen konkret vorgezeichneten Lebensweg anzuweisen. Sie kann das nicht mehr, und deshalb schiebt sie diese Aufgabe uns zu. Wir müssen uns jeder selbst unseren Platz in der Welt erobern und müssen dafür unsere Identität, unsere Lebensprojekte und Lebenspläne entwickeln, weil die Gesellschaft uns mit dieser Aufgabe allein lässt. Wir sind „das Zentrum unserer eigenen Welt und das Planungsbüro unseres eigenen Lebenslaufs“ geworden, sagt der Soziologe Ulrich Beck. Ob das ein guter oder ein schlechter Deal ist, darüber lässt sich streiten.
Wenn man ehrlich ist, sind wir damit oft überfordert. Der Mensch an sich ist evolutionär nicht dafür gemacht, seine Welt ständig selbst zu entwerfen, alle Entscheidungen selbst zu treffen und selbst dafür verantwortlich zu sein. Er hat Jahrzehntausende lang als Gruppenwesen gelebt, und darauf ist sein Denk- und Gefühlsapparat eingestellt. Wir brauchen feste Strukturen und Erwartbarkeiten, wir brauchen Gruppen, denen wir angehören, wir brauchen Richtlinien und Orientierungspunkte, die uns sagen, was wir tun, denken und glauben sollen. Die Gesellschaft gibt uns das kaum noch, und statt dessen sagt sie uns: Sei du selbst!
Es ist vielleicht einfach eine unlösbare Aufgabe, sich für einen Berufsweg aus tausend möglichen zu entscheiden, wenn alle ihre spezifischen Vor- und Nachteile haben und alle unsicher in den Erfolgschancen sind, und wenn dabei die Welt sich so schnell ändert, dass niemand weiß, wie sie in zwanzig Jahren aussehen wird. Es ist eine unbeantwortete Frage, wie man sich orientieren soll in einer Welt, die so pluralistisch ist, dass an jeder Ecke eine neue Weltanschauung zu haben ist und zu jedem Lebensentwurf fünf Gegengründe gleich mitgeliefert werden. Man braucht sich nicht zu wundern, dass das nicht alles glatt und reibungslos über die Bühne geht. Die Gesellschaft überfordert uns systematisch, und wir werden dabei nicht gefragt. Jede und jeder von uns muss „biographische Lösungen für ungelöste Systemprobleme finden“, sagt Ulrich Beck.
Was folgt daraus, für wenn man jung ist und an dem Punkt steht, wo man seinen Platz finden und seine Entscheidungen treffen muss, die einen durchs Leben tragen sollen? Hier zwei Dinge, die ich mir gesagt hätte, als ich 20 war, wenn ich sie damals schon gewusst hätte.
1.
Alles Wichtige im Leben passiert sowieso durch Zufall.Vergiss die Idee, dass du dein Leben planen oder entwerfen oder voraus-optimieren könntest, und dass du am besten schon mit 18 große eigene Projekte in die Welt werfen können solltest. Das Leben passiert vielmehr so: Man fängt irgendwo mit irgendwas an, aus irgendwelchen Gründen, und kommt dadurch auf Ideen, Wege, Kontakte, die man niemals durch Planen hätte finden könnten.
Nehmen wir zum Beispiel mich. Ich habe in meinem ersten Semester an der Universität jemanden getroffen, der ein guter Dozent war und Systemtheoretiker war. Deshalb bin ich jetzt Systemtheoretikerin. Wer weiß, was ich sonst geworden wäre. Dann habe ich einen getroffen, der ein guter Therapeut war und Systemiker war. Deshalb bin ich jetzt Systemikerin. Überhaupt habe ich nach dem Abitur drei Jahre mit planlosem Suchen, Ausprobieren und Rumhängen zugebracht. Aus mir ist trotzdem was geworden. Die Idee, dass das Leben einem Plan folgt und dass man wissen müsste, was man will, geht an der Realität vorbei. Es hilft nichts, als sich dem Zufall anzuvertrauen, das zu tun, worauf man gerade Lust hat oder was sich gerade ergibt, und darauf zu vertrauen, dass man Chancen nutzen kann, wenn sie sich zeigen.
2.
Wenn man sich als Insasse der Gesellschaft überfordert fühlt, ist manchmal vielleicht auch die Gesellschaft verrückt. Die Gesellschaft sagt uns gleichzeitig: „Sei einzigartig!“ und: „Sei normal!“ Denn wir müssen ja nicht nur besondere, unvergleichliche, an uns selbst glaubende Individuen sein. Wir müssen gleichzeitig auch reinpassen, dabei sein, mitmachen, gut ankommen und viele Freunde und Follower haben. Das aber geht nicht, ohne dass man sich an die Standards irgendwelcher Gruppen anpasst, nach ihren Normen lebt, nach ihren Maßstäben normal ist. Wie das beides gleichzeitig gehen soll, hat einem noch keiner erklärt.
Es ist die klassischste Form von Verrücktheit, zwei gegensätzliche Ansagen gleichzeitig zu machen. Psychologen können ein Lied davon singen; sie diskutieren das seit vielen Jahren unter dem Titel „double bind“ oder „Doppelbindung“. Aber die Gesellschaft stellt uns einfach vor diese beiden widersprüchlichen Ansagen, wie wenn sie ohne weiteres kompatibel wären. Jede und jeder muss das für sich selbst balancieren, und es wird einem noch nicht mal gesagt, dass das ein Balanceakt ist.
Deshalb gilt: Man muss der Gesellschaft auch nicht jeden Scheiß abnehmen, den sie einem erzählt. Die größten Verrücktheiten sind die, die man nicht sieht, weil jeder sie erzählt. Man kann aus dieser Realität nicht einfach aussteigen, denn eine andere Welt und eine andere Gesellschaft haben wir nicht. Aber man kann es immerhin wissen und kann an manchen Punkten schlauer sein als der gesellschaftliche Soundtrack. Die Gesellschaft ist ein Monster, und sie ist unser aller Mutter. Wenn wir das wissen, werden wir als Kinder des Monsters mit der Welt schon irgendwie fertigwerden.
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