Himmel und Hölle – Für Kinder und Erwachsene

Was unterscheidet den Menschen vom Tier? Es gibt ja viele Antworten auf diese Frage, zum Beispiel „Der Mensch ist das spielende Wesen“, „Der Mensch ist das Wesen, das seine Toten begräbt“, „Der Mensch ist das Wesen, das an die Zukunft denkt“, und noch andere mehr. Ich versuche es hier mal mit der Antwort, dass der Mensch dasjenige Wesen ist, das über die Unterscheidung von Gut/Schlecht oder Richtig/Falsch verfügt. Diese Antwort steht schon in der Bibel, und sie klingt altmodisch, wenn man sie im Sinn von Moral, Sünde, Strafe Gottes versteht. Man kann ihr aber auch eine psychologische Drehung geben, und dann ist sie topaktuell. Das Religiöse und Moralische ist sowieso nur eine Abbildung des Psychologischen.

Was ist also das Problem? Der Mensch ist zutiefst und mit jeder Faser seines Seins ein soziales Wesen; er kann allein nicht leben und saugt die Regeln seines sozialen Umfeldes bis in die tiefsten Tiefen seiner Seele auf. Er ist aber auch irgendwie ein organisch-biologisches Wesen, das bestimmte Dinge, Regungen, Potentiale einfach mitbringt, roh und ungeformt. Diese beiden Dinge sind verdammt schlecht aufeinander abgestimmt. In seinem sozialen Aufwachskontext kriegt der Mensch Lebens- und Seelenformate mit, die Teile seines spontanen Reaktionsspektrums schlecht aussehen lassen, und das prägt ihm die Richtig/Falsch-Unterscheidung auf in einer Weise, und vor allem mit einer gegen ihn selbst gerichteten Drehung, dass es ein großes Heulen und Zähneklappern ist im Land der Spezies Mensch.

Nehmen wir zum Beispiel an, ein Kind wächst mit Eltern auf, die sich aus irgendeinem Grund schwer tun, geradeaus zu kommunizieren, also offen, authentisch, kongruent, zugänglich und durchsichtig zu reden, sondern die eher ein bisschen verdreht, verdruckst, schräg oder unstimmig kommunizieren. (Warum auch immer: Sie fühlen sich selbst nicht wohl in ihrer Haut, sie stehen unter Druck, sie haben irgendeins von tausend möglichen Problemen.) Das Kind spürt dann: Da stimmt etwas nicht. Aber weil es ein Kind ist, weil es als solches unbegrenzt egozentrisch ist und alles auf sich bezieht, hat es nicht den Eindruck: „Da stimmt was nicht mit meinen Eltern“, sondern es hat den Eindruck: „Da stimmt was nicht mit mir.“

Das ist, psychologisch gesehen, eine tragische Verdrehung. Eigentlich müsste man nämlich sagen: Da ist was falsch an den Aufwachsbedingungen. Aber das Kind erlebt es nicht so. Das Kind erlebt: „Da ist was falsch mit mir.“

Das ist die psychologische Spur, die bleibt. Sie wird dem Menschen quasi von Anfang an falsch rum ins Hirn gesetzt, und die Therapeuten dieser Welt arbeiten daran, das wieder richtigrum zu drehen. Das kann in unbegrenzt vielen Varianten vorkommen. Fast beliebige Kommunikationsregeln oder Familienregeln können dazu führen, dass das Kind mit manchen seiner Bedürfnisse, Impulse, Wahrnehmungen „in die Röhre guckt“ und sich falsch fühlt. Es sind nur immer andere inhaltliche Impulse, der Mechanismus ist immer gleich.

Nehmen wir etwa eine Familie, in der viel gute Laune herrscht, viele Witze gemacht werden, viel Munterkeit und Fröhlichkeit herrscht und man allgemein schwungvoll auf die Welt zugeht. Das ist an sich natürlich schön, aber wenn es zu weit geht, wenn es ein Muster ist, hinter dem sich ein Verbot anderer Stimmungen versteckt – Traurigkeit, Hilflosigkeit, Änglichkeit usw. –, dann kann das ähnliche Effekte haben. Ein Kind, das in dieser Familie aufwächst, wird, wenn es einmal nicht fröhlich, munter und schwungvoll ist, das Gefühl haben: „Ich bin falsch“. Das passiert nicht bewusst, das Kind weiß davon nichts, und es wird vermutlich insgesamt ein fröhlicher, munterer, schwungvoller Mensch werden. Aber es wird doch manchmal in Situationen sein, wo es mit seinen eigentlichen Gefühlen nicht abgeholt wird, und es kann sich dann als ungenügend, unpassend, unrichtig erleben.

Und so weiter und so fort. Es gibt unendlich viele Konstellationen davon. In manchen Familien ist es vielleicht lustvolles Genießen oder faules Entspannen, das keinen Platz und kein Verständnis im sozialen Raum findet, und dann wird das Kind sich falsch fühlen, wenn es entsprechende Regungen an sich wahrnimmt. Oder es sind vielleicht alle Impulse aus dem Umkreis von „Egoismus“ verpönt, also: sich selbst wichtig nehmen, sich selbst in den Mittelpunkt stellen, auf sich selbst stolz sein. Dann wird das Kind sich falsch fühlen, wenn es etwas für sich selbst will oder wenn es sich mit seinem Können zeigen will.

Es muss nun an diesem Punkt einiges entschärft werden, damit nicht der Eindruck entsteht, dass jeder Aufwachskontext per se deformierend ist. Erstens lernt man in jedem Aufwachskontext auch viel Positives: Man kriegt auf der Haben-Seite Fähigkeiten, Kompetenzen, Ressourcen mit, die einem bleiben und die man in sein Leben mitnimmt. Ein Aufwachskontext ist nicht nur ein Beschränkungs-, sondern auch ein Ermöglichungskontext. Und zweitens soll das Ganze natürlich nicht heißen, dass das Kind jederzeit alles, was ihm durch die Rübe oder durch den affektiven Apparat rauscht, ungefiltert sollte rauslassen können. Sozialisation ist immer Formung, Prägung, Zivilisierung, Disziplinierung. Es geht nicht um Hundertprozentigkeit. Aber es geht um Grade der Wachstumsfreiheit, und es geht darum, dass, wenn man beim Wachstum wiederholt auf dieselben Barrieren stößt, dies das Wachstum in bestimmten Richtungen verkümmern lässt – und dass dann eben zusätzlich den verkümmerten Ästen auch noch das Etikett aufgepappt wird: „Ich bin falsch, denn sonst hätte ich nicht so wachsen wollen.“

Das ist die Botschaft, die sich in den psychischen Apparat einbrennt und die später im Leben an ganz verschiedenen Stellen wieder auftauchen kann. Es kann dann zum Beispiel sein, dass der Mensch sich später schwer tut, im sozialen Kontakt locker und spontan zu sein, dass er unter einer Art automatischen Selbstentfremdung lebt nach dem Motto: „Das, was ich spontan denke und fühle, ist garantiert falsch, ich muss mich irgendwie verstellen.“ Oder es kann sein, dass er sich stark an Außenerwartungen orientiert und quasi automatisch die Umgebung abscannt auf das, was positive Resonanz erzeugen könnte. Oder es kann sein, dass er sich nicht traut, im partnerschaftlichen Zusammenleben anspruchsvoll zu sein, weil er denkt, dass im Zweifel bestimmt der oder die Andere richtig ist und er selbst falsch. Irgendwelche seelische Schräglagen dieses Typs finden sich bei – sagen wir – der Hälfte aller Menschen. („Die Hälfte“ ist hier keine Zahlenangabe, sondern eine gefühlte Größe, die die Dimension des Problems zum Ausdruck bringen soll.)

Und ich meine nun: Da ist doch irgendwas falsch an der Konstruktion des Menschen, wenn die Hälfte der Exemplare dieser Gattung mit dem Gefühl durchs Leben geht, falsch zu sein. Da ist doch das evolutionäre Format des Produkts Mensch noch nicht ausgereift. Ich will ja nicht meckern, aber das hätte man doch besser hinkriegen können. Es kann doch nicht sein, dass ein Wesen, das auf den Mond fliegen kann und Quantencomputer bauen kann, nicht in der Lage ist, ohne jahrelange Arbeit den Satz „Ich bin ok so, wie ich bin“ zu glauben – dass dieser Satz ihm so unglaubwürdig scheint, dass man ihn an jeden Laternenpfosten kleben und auf unzählige Buchtitel schreiben muss.

Es wird ja oft gesagt, dass das Spezifikum des Menschen sein Verstand, sein Gehirn, sein Denkvermögen ist. Aber wenn man das hier beschriebene Problem ernst nimmt, ist es andersrum. Das Problem des Menschen ist, dass er früher soziale und seelische Sensibilität hat als Verstandeskraft – dass er die Regeln des sozialen Zusammenlebens aufsaugt, bevor er sie verstehen und reflektieren kann. Seine Seele wird geformt zu einer Zeit, in der er verstandesmäßig keine Chance hat. Das ist doch irgendwie dumm konstruiert. Wer immer der Produktdesigner des Produkts „Mensch“ ist, ob er nun Gott oder Evolution oder sonstwie heißt: ich möchte ihm doch gerne mal rückmelden, dass das Produkt noch nicht ausgereift ist.

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Ein Kommentar zu “Himmel und Hölle – Für Kinder und Erwachsene

  1. Meine Erkenntnis ist:
    Das einzige Ideal, welches tatsächlich existieren kann und existiert, ist die Realität. (Gilt auch für den Menschen, so wie er ist.)
    Jedes andere „Ideal“ ignoriert irgendwo einen Teil dessen was ist, oder was möglich wäre – sonst wäre es bereits Teil der Realität, durch das natürliche Selektionsprinzip.
    Nach neueren Erkenntnissen ist es gerade die Unzulänglichkeit, die es den Menschen ermöglicht, sich zum am höchsten entwickelten „Tier“ in der Natur aufzuschwingen. Wir stehen am oberen Ende der Nahrungskette. Das wir uns gerade genau darüber selbst vergiften, zeigt zwar unsere Unzulänglichkeit, trotzdem sind wir die einzige Spezies, weiche darüber nachdenkt, wie man genau diese wieder ändern könnte. Wären wir bereits perfekt, gäbe es keine Entwicklung mehr, wir würden zum Stillstand kommen, und an dieser Erstarrung schließlich sterben. Wir dürfen garnicht „perfekt“ werden. Denn nur so können wir uns weiter an die sich immer weiter verändern Umwelt anpassen.
    👍🍀🤗

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