Von Kindern, Ängsten und Urmenschen

Kinder kennen alle Gefühle, die die Menschheitsentwicklung begleitet haben. Dazu gehören die schönen, expansiven, nach außen drängenden Gefühle, wie Freude, Liebe, Begeisterung – und dass sie sie so unmittelbar, ungedämpft und hundertprozentig empfinden und ausdrücken, macht die Faszination von Kindern aus und ist ein ausreichender Grund, Kinder zu haben. Sie kennen aber auch die weniger schönen, hemmenden Gefühle, wie Angst, Scham, Befangenheit, und möglicherweise kennen sie sie ebenso unmittelbar und ungedämpft.  

Wie begleiten wir als Eltern unsere Kinder in Situationen, die solche Gefühle hervorrufen? Nehmen wir das Beispiel des Schulanfangs, den viele Kinder gerade durchlebt haben oder durchleben. Es kann die Einschulung sein oder auch sonst ein Neuanfang im Schulleben: eine neue Schule, eine neue Klasse, ein neues soziales Umfeld, ein neuer Lebensabschnitt. Eine Situation, in der so viel Neues auf einen zukommt, ist einerseits mit Spannung und Neugier, andererseits aber auch mit Angst und Unsicherheit aufgeladen.

Was machen wir in den Momenten, wo sich im Kind ein Grummeln von Angst, Beklemmtheit, Schüchternheit regt und es etwa sagt „Ich will eigentlich gar nicht in die Schule gehen“? (Was jüngere Kinder vielleicht noch sagen, ältere eher nicht.) Naheliegend ist es, dem Kind eine Aufmunterung zu bieten und etwas zu sagen wie: „Das wird schon“, „Mach dir keine Sorgen“, „Du brauchst keine Angst zu haben“. Das hat aber den Nachteil, dass dem Kind damit die Berechtigung auf sein reales Angstempfinden abgesprochen wird. Es hat ja Angst, und Angst geht durch die Versicherung, dass sie überflüssig sei, normalerweise nicht weg.  

Genauso viel oder mehr Stärkung bietet die umgekehrte Strategie, die darin besteht, Ängste zu normalisieren. Man gibt dem Kind die Botschaft: „Das ist normal, dass du Angst hast, alle Menschen haben das in so einer Situation, es gehört dazu, ich verstehe das, mir geht das genauso, und man kann damit fertigwerden.“

Ich habe das meinem Sohn unlängst anhand der Urmenschen erklärt. Schon den Urmenschen machte Unbekanntes Angst. Als die Menschen noch halbe Affen waren und in der Wildnis überleben mussten, fühlten sich dann sicher, wenn sie in ihrem gewohnten Wald oder Steppenstück unterwegs waren, weil sie da alle Gefahren, Fallen, Abgründe kannten, aber sie hatten Angst, wenn sie in einem unbekannten Wald oder Steppenstück unterwegs waren, weil sie da all dies nicht kannten und sich in größerer Gefahr befanden. Und sie fühlten sich sicher, wenn sie bei ihrer eigenen Gruppe waren, die sie kannten und mit der sie schon viele Nächte am Lagerfeuer geschlafen hatten, aber sie hatten Angst, wenn sie etwa auf der Jagd bei einer anderen Gruppe bleiben mussten, bei Menschen, die sie nicht kannten und wo sie nicht sicher sein konnten: Wie sind die? Was tun die? Fressen mich die?

Eine solche Erklärung hilft dem Kind, sich anzunehmen mit der eigenen Angst. Sie erklärt den Sinn der Angst und nimmt ihr den Stachel, dass man sie eigentlich nicht haben sollte. Gleichzeitig gibt sie einen Hinweis, wie das angstauslösende Ereignis bewältigt werden kann, in diesem Fall durch Bekanntwerden oder Bekanntmachen: Am zweiten Tag ist es schon besser, und erst recht in der zweiten Woche … Auf diese Weise ist das Kind entlastet und begleitet in seiner Angst und kann lernen, gut damit umzugehen.

Das heißt natürlich nicht, dass man dem Kind nicht auch positives Anstupsen und optimistische Ideen mit auf den Weg geben darf. Natürlich ist auch Platz Sätze wie: „Es wird dir gefallen“, Das ist eine schöne Schule“, „Du wirst viele neue Freunde finden“ usw. Aber das wirkt am besten, wenn man dafür einen eigenen Moment findet und das nicht gerade in dem Moment sagt, in dem das Kind sich mit Angst und Unsicherheit hervorwagt.

Dasselbe gilt übrigens, wenn ein Kind sich schämt. Kinder schämen sich oft, nur dass das oft nicht leicht zu erkennen ist, weil die Scham eine Neigung hat, sich zu verstecken. Wenn jemand sich schämt, hilft es vergleichsweise wenig zu sagen: „Du brauchst dich doch nicht zu schämen.“ Denn wenn man sich schämt, fühlt man sich ohnehin klein und minderwertig und unansehnlich, und wenn dann jemand kommt, der groß und selbstbewusst ist und der einen mit seiner Scham sieht und sie für unnötig erklärt, dann hört man nicht auf, sich zu schämen. Dann schämt man sich weiter, nur noch versteckter.

Wenn Eltern erkennen, dass ihr Kind sich schämt, können sie statt dessen mitfühlend und solidarisierend sagen: „Du schämst dich? Ja, das kenne ich. Das ist doof. Ich schäme mich auch manchmal. Es ist normal, dass man sich ab und zu schämt, als Mensch, der auf sich hält.“ Denn: Die Scham ist die Hüterin der Würde, oder die Hüterin des „Gesichts“, also des Eindrucks, den der Mensch bei seiner sozialen Umwelt abliefert. Wir schämen uns, wenn wir das Gefühl haben, dass unsere Umwelt uns in einer Weise zu sehen bekommt, die wir selbst an uns nicht akzeptieren können.

Deshalb hat die Scham – genauso wie die Angst – durchaus einen Sinn, sie sorgt dafür, dass wir im sozialen Koordinatensystem bleiben und uns nicht allzu grotesk verirren. (Nur dass manchmal Kinder – oder auch Erwachsene – etwas verdrehte  Vorstellungen von dem „Gesicht“ haben, das sie zu wahren hätten, und daran kann man dann arbeiten.) Archaische Gesellschaften stützen sich stark auf Scham und Beschämung als Mittel der sozialen Kontrolle, weil ihnen andere Mittel dafür fehlen, wie Polizei und Justizapparat.  

Wenn man jemandem sagt, was er fühlen soll, funkioniert das eigentlich nie. Im schlimmsten Fall schämt sich das Kind dann auch noch dafür, dass es sich schämt, oder hat dann auch noch Angst, mit der eigenen Angst die Eltern zu enttäuschen. Das macht seine Lage nicht besser. Wenn die Eltern dagegen die erlebten Angst- oder Schamgefühle normalisieren und sich solidarisieren, dann hat das Kind jemanden, der die Angst/Scham mitträgt, und dann trägt sie sich schon viel leichter, und dann wird sie wahrscheinlich auch bald zu bröckeln beginnen.

Das klingt einfach als Rezept: Statt „Du brauchst keine Angst zu haben“ oder „Du brauchst dich nicht zu schämen“, sagt man: „Ja, so ist das, wenn man Angst hat“, oder „wenn man sich schämt“. Es ist aber gar nicht so leicht in der Durchführung. Eltern müssen dafür erstens im richtigen Moment checken, was los ist, und zweitens aushalten können, dass das Kind negative Gefühle hat, gegen die sie im Moment nichts tun können, die sie hinnehmen müssen, die sie nicht „wegmachen“ und durch bessere ersetzen können. Das ist nicht immer leicht. Es lohnt sich aber. Das gibt Angstkompetenz oder Schamkompetenz, oder Gefühlserkennungs- und -bewältigungskompetenz – um ein Urmenschenproblem im Jargon des 21. Jahrhunderts auszudrücken.

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2 Kommentare zu „Von Kindern, Ängsten und Urmenschen

  1. Barbara! So genial! Könntest du auch Mal was über das alt werden schreiben? Wenn die Eltern pflegebedürftig werden zum Beispiel?–

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