Was wir von Politik erwarten können

Aus Anlass von Habeck: Drei Thesen zum Thema Anspruchshaltung in der Politik, generiert aus dem „unique selling point“ oder „unique concurrence point“, der mich ausmacht: Schnittpunkt von soziologischer Gesellschaftstheorie und systemischer Therapie.

1.

Hans Magnus Enzensberger hat festgestellt, dass das Genre der Politikerbeschimpfung, dessen Ursprung die oppositionelle Rede ist, in der durchgesetzten Demokratie zum „Topos der maulenden Mehrheit“ geworden ist. Alle maulen, alle wissen hinterher alles besser, alle regen sich über Fehltritte und Fehleinschätzungen irgendwelcher Politiker auf, bis der Unterschied zwischen moralisch und politisch marodierenden Staatsmännern (wie Putin) und kleinere oder größere Fehler in einer langen Politikerlaufbahn machenden Personen (wie Steinmeier, Habeck, usw.) unkenntlich ist.

Woher kommt das? Es kommt aus der Demokratie, also aus der modernen Form der Politik. Alle modernen Funktionssysteme (Politik, Wirtschaft, Recht, Wissenschaft, Bildung, Massenmedien, Kunst, Liebe/Familie, …) generieren hohe Ansprüche eines universell, also flächendeckend gewordenen Publikums. Sie generieren ja auch reale große Leistungssteigerungen, aber auch eine noch schnellere Anspruchssteigerung.

Zum Beispiel die Massenmedien: Sie erreichen eine enorme Steigerung von Verbreitung, Schnelligkeit, Diversität von Informationen, bleiben aber immer zurück hinter den Ansprüchen an Mitsprache, Transparenz, Offenheit, Zugangsgleichheit, Diskursförderung, Demokratiefreundlichkeit, Triggerfreiheit, die man an sie haben kann.

Oder moderne Liebesbeziehungen: Sie steigern enorm das Ausmaß an Tiefe, Intimität, zwischenmenschlicher Durchdringung, Gefühlintensität, Kommunikationsverdichtung, im Vergleich zu vormodernen Ehen, aber die Realität einer langjährigen Liebesbeziehung bleibt immer zurück hinter den Ansprüchen an Glück und Erfüllung, die das romantische Liebesmodell in uns weckt.

Und genauso eben auch die moderne Politik: Sie erreicht enorme Leistungssteigerungen in Sachen Komplexität und Eindringtiefe von Entscheidungen, Durchdringung des täglichen Lebens mit staatlichen Förderungen und Regelungen, Breite der berücksichtigten Interessen und Mitsprache diverser Klientelgruppen. Beweis: Vergleich mit jeder Art vormoderner Politik, egal wo, egal in welcher Gesellschaft, egal in welcher Epoche. Aber sie bleibt immer zurück hinter den Ansprüchen des Publikums, das Entscheidungen noch besser haben will (und schneller! und gerechter! und vorausschauender! und abgestimmter!), Auftritte noch glatter und akkurater und professioneller (aber ohne Floskeln! ohne Rhetorik! bitte authentisch! und sympathisch!), und Regierungsbildungen noch flüssiger (Parteien, bitte Zusammenarbeitsfähigkeit und Koalitionsfähigkeit beweisen! Aber bitte auch nicht hinter irgendwelchen Zielprojektionen aus dem Wahlkampf zurückbleiben!).

Das ist zwar nicht letztlich rational, aber es ist vermutlich unabänderlich. Jede Strukturwahl eines sozialen Systems erzeugt auch Nebenfolgen, sie hat nicht nur Vorteile, sondern auch Nachteile. In Sachen unerwünschte Nebenfolgen kann eine politische Ordnung vermutlich wählen zwischen duckmäuserischen Untertanen (19./20. Jhd.) und maulenden besserwisserischen Bürgern (20./21. Jhd.). Vielleicht gibt es noch mehr Möglichkeiten, aber eine politische Ordnung ohne Nebenfolgen überhaupt wird es nie geben.

2.

Es ist eine der goldenen Regeln der Therapie, dass Menschen glücklicher werden, wenn es ihnen gelingt, Ansprüche loszulassen oder runterzuschrauben – Ansprüche an sich, Ansprüche an Andere (etwa den Partner), Ansprüche an das Leben, an das Level von Leistung, Perfektion, Fehlerlosigkeit, Sicherheit, Schönheit, das man erwarten kann.

Wie wäre es, wenn wir diesen Grundsatz auf das politische Erleben des Staatsbürgers anwenden würden? Statt etwa zu erwarten, dass ein Minister auf alles jederzeit eine Antwort weiß, alles vorhergesehen und in exakte, punktgenau erlassene Verordnungen gegossen hat, würden wir uns klarmachen, dass die Strukturanpassungen einer Wirtschaft im Krieg oder ähnlichen Krisenfall immer einen Trade-Off zwischen Schnelligkeit und Gerechtigkeit erfordern (Beweis: Kriegswirtschaft in Weltkrieg I und II), und dass ganz allgemein Systemveränderungen, je größer sie sind, nicht ohne Verluste, Opfer, Pannen, Phantomschmerzen vor sich gehen.

Statt uns aufzuregen, weil ein Minister fünf Minuten Bullshit geredet hat, würden wir uns klarmachen, dass jeder von uns mal einen schlechten Tag hat und dass jeder von uns ab und zu Bullshit redet. Nur wenn ich Bullshit rede, ist das nicht live auf ARD und am nächsten Tag in allen Medien, sondern versickert gnädig im Lauf des kommunikativen Geschehens.

Politiker sind auch nur Menschen. Sie sind fehlbar, sie machen Fehler, ihr Tag hat nur 24 Stunden, sie haben nicht alles im Griff, sie wissen nur so viel, wie ein Mensch mit seiner begrenzten Festplatte eben wissen kann, sie sind nicht immer zu hundert Prozent poliert und verbal, mental und modisch auf Vordermann gebracht.

Wer legt diese Maßstäbe an sein eigenes Leben an? Wer möchte selbst daran gemessen werden? Wer hat alle Bereiche seines eigenen Lebens (Beruf, Partnerschaft, Familie, Gesundheit, …) in dieser Weise im Griff? Der melde sich gern.

Die effizienteste Art, Politiker gleichzeitig runterzukriegen und zufriedener mit ihnen zu sein, wäre, sie einfach als normale Menschen zu sehen, die einen normalen, wenn auch anstrengenden Job machen – einen Job, den ich nicht machen möchte und bei dem ich dankbar bin, dass jemand anderer ihn macht.

3.

Manche Kommentare zu Habeck lauten in etwa so: Jetzt ist Habeck entlarvt. Alle seine bisherigen, so klug und überlegt wirkenden Auftritte sind als Makulatur und Fake enttarnt. Jetzt hat sich gezeigt, wie Habeck „wirklich“ ist, in diesen fünf Minuten ist seine Maske gefallen, jetzt steht er nackt und entblößt vor dem Wahlvolk.

Nun. Was ist das für eine Rechnung? Wenn jemand 99 gute Auftritte hat und einen schlechten, zeigen dann eher die 99 oder eher der eine, wie er „wirklich“ ist? Oder gibt es etwa gar kein einheitliches „wirklich“ einer Person, sondern eher einen bunten Mix und Flickenteppich an Aspekten und Momenten, der immer widersprüchlich und lückenhaft, nie hundertprozentig konsistent und durchgearbeitet ist?

Ist das nicht das Ergebnis langer Forschungen zu Identität? Identität gibt es nicht. Es gibt nur unendlich vielgestaltige Operationsketten und Momentaufnahmen, die sich, für den Hausgebrauch des Individuums und seines nahen Umfelds, zu einem Selbstbild, Selbstverständnis, Selbstdarstellung, Selbsterzählung verdichten. Dieses bleibt aber immer verkürzt und vereinfacht gegenüber dem, was der Mensch „wirklich“ ist.

Ein kluger Therapeut (Ortwin Meiss) hat mal gesagt: „Identität ist eine der tiefsten Trancen, in denen wir uns befinden.“ Identität gibt es nicht, Identität ist eine abkürzende Kompaktidee für den Selbstzugriff. Das gilt für alle Menschen, sogar für alle sozialen Systeme (Organisationen, Staaten, Religionen …), und auch für Politiker.  

Die Massenmedien pflegen demgegenüber eine Enthüllungssehnsucht und damit eine versteckte Wirklichkeits- und Identitätssehnsucht. Die Annahme ist, dass es irgendwo eine „wahre“ oder „wirkliche“ Identität eines Menschen gibt, die nur oft verhüllt, verborgen, weggetarnt ist. Wenn wir einen Zipfel davon erhaschen – erkennbar daran, dass er dem bisher gezeigten Gesicht des Menschen zuwiderläuft –, dann können wir daraus auf seine wirkliche, echte, essentielle Essenz schließen.

Viel Vergnügen mit dieser Annahme. Langweilig es einem damit nicht, aber klüger wird man auch nicht.

Fazit.

Wir müssen uns Politiker als arme Schweine vorstellen. Wer sich über jeden Fehltritt aufregt, hängt implizit immer noch der Idee des großen, starken, sonnengleichen Mannes an, die er auf diese Weise anzukratzen versucht. Man kann sie auch einfach aufgeben.

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4 Kommentare zu „Was wir von Politik erwarten können

  1. Identität gibt es nicht, Identität ist eine abkürzende Kompaktidee für den Selbstzugriff. Aber das verstehe ich nicht. 😑–

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  2. Ganz großartig – spricht mir ganz aus der Seele: wie viel unnütze Aufregung wäre zu vermeiden, wenn wir die Ansprüche an uns und an Andere reduzieren könnten – möglichst in einem Maß, dass wir von beiden dasselbe Level erwarten – und wie viel Energie wäre dann frei, damit wir uns um wichtige Antworten kümmern könnten – Vielen Dank

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  3. Ich denke, die Geschichte hat im Kern einen relativ einfachen Hintergrund:
    Wir gewöhnen uns schnell an positives, angenehmes, was uns gefällt. Es wird normal und wir erwarten es – völlig unbewusst.
    An negatives, unangenehmes oder etwas, das wir ablehnen, gewöhnen wir uns nie. Es bleibt in unserem Bewusstsein wie ein Stein im Schuh.
    Und so wird aus jeder Situation binnen kurzer Zeit das negative überwiegen. Das Positive ist ins „erwartbare“ Inventar übergegangen – es ist „normal“ geworden. Während das Negative im Bewusstseinsfeld verbleibt, und uns ständig daran erinnert: Es geht auch besser…
    Wir können also nur bewusst sagen: Es ist besser. Ich muss nur wieder bewusst hinschauen und auch jenes beachten, was mir nicht ständig wie ein Stein im Schuh drückt. Dann ist die Waage wieder ausgeglichen, bzw. meist überwiegt sogar das Positive. Aber nur, wenn wir es auch wissen wollen…
    👍🍀🤗

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