
Wenn es stimmt, dass russische Soldaten systematisch ukrainische Zivilisten erschossen haben, gibt es zwei mögliche Deutungen für die Logik, die dahinter liegt (neben, natürlich, einfach Hass, Frust oder Dummheit von Soldaten). Letztlich laufen aber beide auf dasselbe hinaus, nämlich auf Inklusion. Ich erlaube mir, auf kühle gesellschaftstheoretische Begriffe zurückzugreifen, um diese schrecklichen und immer schrecklicher werdenden Nachrichten kriegstheoretisch einzuordnen.
Die eine Möglichkeit ist, dass diese Zivilisten im zivilen Widerstand, also im Partisanenkrieg gegen die russischen Invasoren, aktiv waren und in diesem Zusammenhang erschossen wurden. Die Ukraine wird seit Wochen, man muss wirklich sagen: heldenhaft verteidigt, auch von Zivilisten. Es ist klar, dass das das Risiko beinhaltet, dass diese freiwilligen Kämpfer verwundet, gefangengenommen oder getötet werden.
Kriegsrechtlich sind Partisanen eine schwierige Sache. Das Kriegsrecht kennt keinen gesonderten Status des Partisanen, es gibt nur Kombattanten und Non-Kombattanten. Wer als Partisan kämpft, sei es auch ohne Uniform und ohne reguläre Befehlskette, wird dadurch zum Kombattanten, jedenfalls wenn die Kampftätigkeit bestimmte Schwellen überschreitet. (Fahnenschwenken reicht nicht, eine Schusswaffe in der Hand reicht sicher, reicht ein Molotowcocktail?) Wie immer die juristische Lage hier ist: Sicher ist, dass die gegnerischen Soldaten es in dieser Situation mit rechtlichen Unterscheidungen nicht so genau nehmen, sondern auf Angriffe als auf Angriffe reagieren. (Und das ist im übrigen ein universelles Phänomen und auch z.B. von US-Soldaten bekannt. Ein US-Soldat hat einmal in einem Interview gesagt: „Uns wurde in der Ausbildung eingebläut, dass wir unter allen Umständen die Genfer Konvention einhalten müssen. Es hat uns nur keiner erklärt, was in der Genfer Konvention drinsteht.“)
Die andere Möglichkeit ist, dass die Zivilisten einfach so erschossen worden sind, als Angehörige eines Feindstaates und einer mutmaßlich feindlichen Nation. Das ist klar kriegsrechtswidrig. Ich kann aber nicht umhin – als Soziologin –, dazuzusagen, dass das eine Möglichkeit ist, die die moderne Gesellschaft mit den für sie typischen Strukturen produziert und zu der sie systematische Anreize produziert. Denn:
Die moderne Gesellschaft zeichnet sich durch einen Mastertrend zu Inklusion aus, und „Inklusion“ meine ich hier nicht im landläufigen Sinn von „Integration von behinderten Menschen“, sondern im gesellschaftstheoretischen Sinn. In der Gesellschaftstheorie besagt der Begriff Folgendes. Die moderne Gesellschaft zeichnet sich dadurch aus, dass sie etwa zehn bis zwölf gesellschaftliche Großbereiche – auch Funktionssysteme genannt – enthält, nämlich: Politik, Recht, Wirtschaft, Wissenschaft, Massenmedien, Bildung, Medizin, Familie, Religion, Kunst, Sport (und möglicherweise noch einige mehr). Jedes dieser Funktionssysteme erzeugt einen Trend in die Richtung, die Gesamtbevölkerung an den eigenen Operationen und eigenen Rollen teilnehmen zu lassen, d.h. jedes dieser Funktionssysteme richtet sich tendenziell an alle Menschen und stellt Rollen dafür bereit.
Der Trend hin zur Öffnung all dieser Bereiche und zur Bereitstellung von Teilnahmerollen für Jedermann/frau ist einer der am besten empirisch belegbaren gesellschaftlichen Makrotrends, die es überhaupt gibt. Er beginnt so ab 1800 und setzt sich bis ins 21. Jahrhundert hinein fort, ohne überall auf der Welt schon abgeschlossen zu sein. Die Politik stellt sich auf Demokratie um (ab 1776 in Amerika, ab 1789 in Europa) und erfindet das Prinzip „one man, one vote“, jeder hat gleiche Teilnahmechancen. Das Recht stellt sich auf das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz um (statt ungleichen Rechtspositionen und -privilegien je nach Stand) und behandelt jeden rechtlich gleich. Die Wirtschaft nötigt jedermann/frau in den Operationsbereich des Geldmediums, indem sie ein Leben ohne Geld praktisch unmöglich macht, so dass jeder Mensch entweder arbeitet und damit Geld verdient oder alternativ vom Staat mit Mindestmengen Geld an versorgt wird. Die Massenmedien fangen an, sich an jedermann/frau zu wenden, nicht nur an eine gebildete Oberschicht, und bringen irgendwann auch Zeitungen hervor für Leute, die nur Sätze mit höchstens zehn Wörtern lesen wollen oder können. Das Bildungssystem erfindet die Schulpflicht und schickt jeden zwangsweise in die Schule. Das Gesundheitssystem wird mit gesetzlicher Krankenversicherung ausgestattet, so dass jeder Zugang zu medizinischer Versorgung hat. Die Kunst präsentiert sich in öffentlichen Museen und Konzerthäusern mit erträglichen Eintrittspreisen. Das Eingehen von Paarbeziehungen und die Gründung von Familien wird jedermann/frau erlaubt, unabhängig von der Schicht und der Möglichkeit, eine Familie zu ernähren; während früher Knechte, Mägde und andere ökonomisch unselbständige Personen nicht heiraten konnten, dürfen das heute selbstverständlich auch Hartz IV-Empfänger, und alles andere würde uns unerträglich erscheinen.
Inklusion erscheint uns grundsätzlich als etwas Gutes und Wünschenswertes. Sie bedeutet Partizipationschance, Zugang zu Lebenschancen und zu Chancengleichheit, und wo sie noch nicht ausreichend erreicht ist (und es gibt überall Lücken und Defizite), fordern irgendwelche Gruppen lautstark ihre Vervollständigung. Man muss aber sehen, dass Inklusion, wenn auch ein unverzichtbares und nicht-rücknehmbares Bauprinzip der modernen Gesellschaft, nicht nur Sonnen-, sondern auch Schattenseiten hat. Die Inklusion in all diese gesellschaftlichen Bereiche bringt nicht nur Chancen und Vorteile, sondern auch Risiken und potentielle Schäden mit sich. Zum Beispiel kann Inklusion ins Wirtschaftssystem auch Inklusion in Aktienspekulation bedeuten, und das ist bekanntlich Teilhabe an Gewinnen und Höhenflügen ebenso wie an Crashs und Verlusten.
Eine Schattenseite der Inklusion in Politik besteht darin, dass sie Inklusion nicht nur in die friedlichen, gewaltfreien Formen des Politikbetriebs bedeutet (Wahlen, Debatten, Demonstrationen, soziale Bewegungen), sondern Inklusion auch in Krieg. Zusammen mit der Demokratie – wenige Jahre nach der Französischen Revolution und im Zuge der Revolutionskriege – wird die allgemeine Wehrpflicht erfunden. Das jung-demokratische Frankreich schickt alle seine Männer in den Krieg. „Jeder Soldat ein Bürger, jeder Bürger ein Soldat“ ist das Motto, mit dem die Revolution sich gegen ihre Feinde verteidigt, und zwar so erfolgreich verteidigt, dass die Feinde (die restaurativen Mächte Europas) ihr das bald nachmachen. Mit der Erfindung von Demokratie und Nationalstaat ist jeder auch zu einem Nationsangehörigen geworden, der die Verpflichtung hat, diese bei Bedarf zu verteidigen. Später in den Weltkriegen haben die Bürger und Nationsgenossen dann reichlich Gelegenheit, die Konsequenzen dieser Verpflichtung zu fühlen. Jedenfalls die Männer – während die Frauen an der „Heimatfront“ in die Pflicht genommen werden, zu Kriegsproduktion, sonstiger Produktion, permanenter Improvisation, und hinterher zum Wiederaufbau.
Die noch fatalere Seite dieser Inklusion in Politik – gewaltsame Politik – ist, dass auch der nicht-kämpfende Bürger, auch der Zivilist, mit der Erfindung des Nationalstaatsprinzips zunehmend systematisch zum Ziel von Angriffen wird. In Jahrtausenden vormoderner Kriegsgeschichte war die Zivilbevölkerung oft ein mehr oder weniger neutrales Inventar des Landes gewesen – als Bauernschaft, die zum Bestellen des Landes benötigt wird, die grundsätzlich unpolitisch lebt und die deshalb meist nicht systematisch, sondern eher okkasionell abgeschlachtet und ausgeplündert wird (Leben-aus-dem-Lande, verbrannte-Erde-Strategie, Städte-schleißen-und-Siege-komplett-machen). Herrschende und Beherrschte, Kriegführende (samt Armeen) und Zivilisten waren damals noch nicht durch gemeinsame Sprache und Nationszugehörigkeit miteinander verbunden, sie waren eher wie verschiedene Spezies oder jedenfalls eben verschiedene Schichten. Die Bauern zählten politisch nicht, im Guten wie im Schlechten. Sie zählten nicht bei der Mitsprache über die politische Ordnung, aber sie zählten eben oft auch nicht im Krieg. Die Idee der Schonung von Zivilisten – als Menschen mit Empfindungen, Ansprüchen und Rechten – war entsprechend schlecht ausgeprägt, aber die Idee, eine bestimmte Zivilbevölkerung systematisch loszuwerden und vielleicht durch eine andere, einer anderen Nation angehörige zu ersetzen, war auch noch nicht geboren.
All dies kommt mit den großen Kriegen der Moderne auf, vor allem mit den Weltkriegen. Jeder Zivilist ist jetzt tendenziell „Feindstaatangehöriger“, seine Moral muss untergraben werden, er gilt als Untermensch oder Ungeziefer, seine Vernichtung oder Vertreibung kann per se ein Kriegserfolg sein. Zivilisten geraten deshalb zunehmend systematisch ins Visier von militärischen Angriffen: Massakern, Bombardierungen, Vertreibungen, Aushungerungen und anderen Aktionen mehr. Die perfideste – und, als Strategie, jüngste – Strategie dieses Typs ist die systematische Vergewaltigung der Frauen der „Feind“bevölkerung: nicht als überschießende Triebbefriedigung der Soldaten, sondern als systematisch genutzte Möglichkeit, die Integrität von Familien und die Fortpflanzungsmöglichkeit einer Bevölkerungsgruppe zu zerstören oder zu stören, soweit nämlich vergewaltigte Frauen als unmögliche Heiratspartner gelten. Diese Möglichkeit ist in etlichen afrikanischen (Bürger-)Kriegen, aber auch in den jugoslawischen Zerfallskriegen entdeckt und benutzt worden.
Und möglicherweise ist es das, was Putin in der Ukraine im Sinn hat. (möglicherweise! wir wissen das noch nicht.) Die Ukrainer sind, da sie ihn nicht so freudig empfangen haben wie gedacht, allesamt zu Feinden geworden. Ab jetzt ist jeder tote Ukrainer ein guter Ukrainer. Es geht nicht mehr nur um die militärische Eroberung des Landes, bei der zivile Opfer als Kollateralschaden anfallen, sondern es geht um die Vernichtung oder größtmögliche Schwächung einer Nation, die insgesamt als Feind und Ungeziefer im Zoo der Nationen erlebt wird. (Ich wiederhole: möglicherweise. Nur um die Konsequenzen zu skizzieren, die diese Logik hat, wenn sie greift.) Außerdem in diesem Fall: Die Zivilbevölkerung soll vertrieben werden, und so stark wie möglich in Angst und Schrecken versetzt werden, um Europa mit Flüchtlingen zu überschwemmen und zu destabilisieren.
Letztlich sind beide hier diskutierte Möglichkeiten – Tötung von Zivilisten als Partisanen/Kämpfer, oder Tötung von Zivilisten als ungeliebten Zivilisten – Fälle von Inklusion. Auch der Partisanenkrieg ist nämlich eine Variante von Inklusion. Er ist die freiwillige, graswurzelförmige, bürgerbewegungsförmige Form der Inklusion in Krieg. Anders als wehrpflichtige Soldaten, die zwangsinkludiert werden, inkludiert sich der Partisan oder Guerrillero selbst, freiwillig und aufgrund eigener Überzeugung. (Jedenfalls der klassische Partisan oder Guerrillero; manche zeitgenössischen Guerrilla-, Rebellen- oder Warlordarmeen nehmen es da nicht so genau und benutzen ebenfalls das Mittel der Zwangsrekrutierung.) Ein Guerrillakrieg ist gewissermaßen das Volk, das zu den Waffen greift – so wie eine Revolution oder eine soziale Bewegung das Volk ist, das auf die Straße geht und seine politische Meinung in die Präsidentenpaläste trägt. Der Partisanenkrieg oder Guerrillakrieg ist deshalb ebenfalls zeitgleich mit der Französischen Revolution erfunden worden, nämlich im konterrevolutionären „Aufstand der Vendée“ gegen die revolutionäre Regierung. Seither gehört er zum Menü an militärischen Optionen, das in modernen Kriegen zur Verfügung steht.
Wenn und soweit ein Land Partisanen mobilisieren kann, um einen Krieg weiterzuführen oder zu unterstützen, den sein reguläres Militär allein nicht ausfechten kann, ist das ein Erfolg der Nation – nämlich der politischen Identifikation der Menschen, die sich mehr mit ihrem Land als mit ihrer Familie identifizieren, lieber Straßenkampf führen als mit ihren Kindern aus dem Land fliehen. Wenn und soweit die ukrainischen Zivilisten, die von Russen erschossen wurden, als Partisanen erschossen wurden, sind sie also auch infolge einer Inklusionsbewegung erschossen worden, nur in diesem Fall infolge einer Inklusionsbewegung, die sie selbst freiwillig getragen und mitgetragen haben. Inklusion ist tragisch, oder sie kann tragisch sein. Das können wir – wenn wir angesichts des Entsetzens noch etwas lernen wollen – an diesem Fall lernen.
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Hier ein Beitrag zum Krieg der Worte: Krieg der Worte
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Sabine Klar
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