
Ein großer Fortschritt des 20. Jahrhunderts ist es, dass Krieg vorrangig aus der Perspektive der Zivilisten gesehen wird, also aus der Perspektive der Opfer, die ihn erleiden, nicht der politischen Akteure, die ihn führen. Das Wort „Krieg“ heißt für uns vor allem: Leid, Zerstörung, Tod, Verlust, Angst, Hunger, Elend und Entsetzen.
Das war nicht immer so. In der Antike und im Mittelalter war Krieg eine Sache von blitzenden Helmen und Schwertern, die Männern eine Gelegenheit zum Erweis von Kampfesmut, Geschick und edler Gesinnung gegeben hat und Königen eine Gelegenheit zur Vergrößerung ihres Ruhms. Natürlich gab es damals auch schon zivile Opfer, die genauso gelitten haben, aber das prägte nicht die Gesamtwahrnehmung von Krieg, was daran erkennbar ist, dass das Wort „Krieg“ damals mit Stolz, Selbstbewusstsein und Eigenverantwortung ausgesprochen wurde. Man konnte stolz sagen: „Wir ziehen in den Krieg!“, und es wurde nicht verschämt, akteurlos und subjektlos davon gesprochen, dass „ein Krieg ausbricht“ oder dass „Krieg ist“.
Diese Verschiebung im Sprachgebrauch zeigt an, dass sich etwas an den gesellschaftlichen Realitäten von Krieg geändert hat. Und was sich geändert hat, ist nicht nur, dass seit damals tausendfach stärkere, tödlichere, anonymer treffende Waffen zur Verfügung stehen, sondern auch, dass die tragenden Rollengefüge der Gesellschaft andere geworden sind. Die Repräsentation durch Führer, Obere, Würdenträger, hohe Herren und starke Männer hat an Gewicht verloren gegenüber dem normalen Menschen („Otto Normalverbraucher“ und „Erika Mustermann“), der an allem teilnimmt und in allen Bereichen des Lebens zur Orientierungsfigur geworden ist: in der Demokratie als Wähler, in der Wirtschaft als Konsument, in der Bildung als Schüler, Student, wissenshungriger Humankapitalträger, in den Massenmedien als anzusprechender Leser, Zuschauer, Zuhörer, usw. usf., und in all dem gleichermaßen als Mann und als Frau, oft sogar: gleichermaßen als Erwachsener und als Kind. Die, die früher die Führer und Oberen und Adligen waren, sind heute nur noch geschätzte oder geschasste Leistungserbringer: Der Politiker dient dem Volk und wird nach ein paar Jahren abgewählt, die Unternehmer umkreisen einander in permanenten Innovations- und Verdrängungswettkämpfen, die Lehrer sind nicht mehr geachtete Gelehrte, sondern gestresste Lehrplanvermittler. (Ich stelle das jetzt leicht übertrieben dar, der Kürze halber, aber so würden manche Soziologen den Übergang von der vormodernen zur modernen Gesellschaft beschreiben.)
Diese Verschiebung in der gesellschaftlichen Architektur ist der Grund dafür, dass Krieg die längste Zeit der Menschheitsgeschichte als etwas Ehrenhaftes galt und jetzt zu etwas Schrecklichem, Entsetzlichem geworden ist, zum fürchterlichsten Unheil, das den Menschen heimsuchen kann.
Natürlich gibt es immer beide Perspektiven gleichzeitig: Es gibt die Perspektive der Kriegführenden, der Kommandierenden, der Staatslenker und der Helden, und es gibt die Perspektive der Leidenden, der Zivilisten, der Opfer. Aber wenn Perspektiven aufeinandertreffen, ist die Frage, wie sie miteinander umgehen, oder: wie Meta-Beobachter und außenstehende Drittbeobachter – etwa Kriegsberichterstatter, Öffentlichkeiten, Geschichtsschreiber – damit umgehen, wie sie die Lage anordnen. Und hier hat sich die erwähnte Verschiebung abgespielt, von Krieg als Ehrensache zu Krieg als sinnlosem Leiden.
Herfried Münkler hat in einer interessanten Studie zur Kriegsberichtserstattung herausgearbeitet, dass noch im 18. Jahrhundert die Perspektive des Feldherrn als die „eigentliche“ Realität des Krieges galt, denn der Feldherr hat den Überblick: Er steht auf dem Feldherrnhügel und sieht, was „wirklich“ passiert, im Sinn von: was großflächig, taktisch oder strategisch, insgesamt passiert. Diese Perspektive war zur Zeit des Absolutismus in der Wahrnehmung der Dritt-Wahrnehmer ausgezeichnet, sie galt als höherwertig als die der einzelnen Soldaten, die im Schlachtgetümmel stehen, oder gar die der Zivilisten, etwa der Bauern, deren Hof nebenbei verwüstet wird.
Im 20. Jahrhundert war es dann zunächst die Perspektive des einzelnen Soldaten, die zur „eigentlichen“ Perspektive aufgewertet wurde: Der Soldat an der Front erlebt, wie Krieg „wirklich“ ist, wenn er Kameraden sterben sieht und Granaten explodieren hört, während die Kommandanten in ihren Bunkern und Kommandozentralen eine privilegierte Sonderperspektive haben, die nicht mehr „den Krieg“ repräsentiert. Noch später verschiebt sich das auf die Perspektive der Zivilisten, die den Krieg passiv erleiden: der Bewohner von Städten, die von Bomben oder Marschflugkörpern getroffen werden; der Eltern, die ihre toten oder verwundeten Kindern aus den Trümmern ziehen; der Mütter, die Babys zu versorgen haben in einer nahrungsmittelentleerten Umwelt; der Flüchtlinge, die hungrig und heimatlos durchs Land ziehen; der Menschen, die ihre Familien – und nicht nur ihre Kameraden – leiden und sterben, Angst haben und hungern sehen. (Quelle: Herfried Münkler, Gewalt und Ordnung, 1992)
Nun kann es natürlich nicht darum gehen, die Wahrheit oder „Eigentlichkeit“ von Perspektiven gegeneinander auszuspielen im Sinn von: Es kann nur eine richtig sein. Natürlich sind sie alle wahr und richtig. Aber Wahrnehmungsweisen stehen in einem größeren gesellschaftlichen Kontext, der ihnen unterschiedliches Gewicht und „Würde“ gibt. Und etwa seit dem Zweiten Weltkrieg dominiert in der allgemeinen Wahrnehmung die Perspektive des Zivilisten: in der Tönung des Wortes „Krieg“; im völkerrechtlichen Verbot von Krieg, das schlechterdings jeden Krieg, sogar den aktuellen, als Verteidigungskrieg darzustellen nötigt; in der Kriegsberichterstattung; in der Gestaltung von Denkmälern und Mahnmälern, die nicht mehr Helden ehren, sondern der Opfer gedenken; und in der historischen Einordnung von Krieg, die durch die Sicht gefärbt ist, dass die glücklichen Zeiten der Menschheit die ereignislosen, nämlich kriegslosen sind.
In der aktuellen Wahrnehmung des Ukrainekrieges stehen beide Sichtweisen noch scheinbar harmonisch nebeneinander: die Heldensicht, die tapfere Kämpfer feiert und nationale Standhaftigkeit preist, und die Opfersicht, die das jetzt schon, nach anderthalb Wochen!, unermessliche Leid der Zivilbevölkerung herausstellt. Sie stehen (noch?) nicht gegeneinander, weil man sich (noch?) nicht der bitteren Einsicht stellt, dass sie nicht miteinander, sondern gegeneinander gehen – dass der Erfolg und die Durchhaltefähigkeit der Helden das Leid der Zivilisten ist.
Deshalb kommt hier meine Schlussfolgerung, und ab hier wird mein Text persönlich und angreifbar. (Bisher war er soziologisch und faktengedeckt.) In meinem Kopf – oder besser: in meinem Herzen, der Kopf zieht nur nach – vollzieht sich jetzt schon die Prioritätensetzung für den Zivilisten. Das Leid der Menschen, die diesem Krieg ausgesetzt sind, ist größer als der politische Preis, der dabei zu gewinnen ist. Nicht unbedingt, weil die Souveränität der Ukraine es nicht wert wäre, aber weil die Ukraine in diesem Krieg keine Chance hat – weil sie nur ihre Ehre, nicht ihre Unabhängigkeit verteidigen kann. Ich weiß, es steht mir nicht zu, diese Abwägung zu treffen. Das müssen die Ukrainer selbst tun. Aber wer sind „die Ukrainer“? Es gibt sie eben nur in der Aufsplittung in politische Entscheider, Kämpfer, Kriegführer, Präsidenten einerseits, und erleidende, der Not, dem Hunger, der Traumatisierung ausgesetzte Zivilisten andererseits.
Im Moment entscheiden die Entscheider, und das liegt in der Natur der Sache. Aber ich glaube: Die beste Entscheidung, die sie im Moment treffen könnten, wäre, militärisch zu kapitulieren, die Ukraine besetzen zu lassen und sich den nicht-militärischen Sanktionen des Westens anzuvertrauen. Der Job des Westens dabei wäre, sich zu committen, dass die beißenden Sanktionen – insbesondere Zentralbanksanktionen – nicht aufgehoben werden, bis die Besetzung der Ukraine aufgehoben ist. Das wäre Krim replayed, aber auf höherer Stufe und mit weniger Möglichkeiten für Russland, das einfach jahrelang auszuhalten und auszusitzen. (Ja, es ist nicht auszuschließen, dass Putin das als Kriegserklärung ansieht. Aber es ist, trotz allem, immer noch davon auszugehen, dass selbst Putin einsieht, dass er auf eine Zentralbankblockade nicht mit Atomwaffen reagieren kann. Bei NATO-Luftoperationen – Durchsetzung einer Flugverbotszone – würde ich davon nicht mehr mit ausreichender Sicherheit ausgehen. Bei Zentralbanksanktionen tue ich es noch. Putins Ziel ist, dass Russland wieder eine Großmacht oder Weltmacht wird. Ich hoffe, auch ihm ist klar, dass es dafür eine Welt geben muss.)
Die Ukrainer haben in diesem Krieg keine Chance. Ihnen gegenüber steht eine Großmacht, die sich seit Jahren aufrüstet und keine Skrupel kennt. Klar, sie können ihr Land noch wochen- oder monatelang verteidigen. Und dann? Dann wird die Ukraine genauso besiegt und besetzt sein, aber ihre Städte werden aussehen wie Grosny im Jahr 2000, und die Seelen von Millionen Ukrainern werden aussehen wie die Seelen von Millionen Deutschen, Russen, Polen, Tschechen usw. im Jahr 1945.
Selenskyj ist das Idealbild des Helden: sympathisch, mutig, uneitel, sich ganz in den Dienst der Sache stellend, zu allem entschlossen und nicht beiseite rückend. Aber – und ich weiß, dass das jetzt defätistisch und dolchstoßmäßig klingt –, er wird damit das Leid von Millionen ukrainischer Zivilisten vergrößern und verlängern. Selenskyj ist ein Held, und er ist ein Führer, ein Präsident, ein Repräsentant der Ukraine. Er denkt in der Logik der Kriegführenden, der Kommandierenden, der nationalen Vorbilder, und das ist sein Job. Aber auf der anderen Seite stehen die Kiewer, die seit anderthalb Wochen in der U-Bahn oder in einem Heizungskeller sitzen, vielleicht keine warme Mahlzeit gehabt haben, nicht wissen, wie sie gleichzeitig ihre Kinder betreuen und ihnen in einer leergeräumten Stadt Essen besorgen sollen, die um die relativ wärmeren Plätze auf einem kalten U-Bahnsteig konkurrieren oder um die wenigen Steckdosen, die es dort vielleicht gibt, die kaum zum Schlafen kommen, weil es kalt und laut ist und sie Angst haben und unruhige, verängstigte Kinder neben sich haben. Oder da stehen die Mariupoler, die durch den versprochenen Korridor fliehen wollten, die bei Minustemperaturen ihre Kinder ins Auto gepackt oder zu einem Bustransport gebracht haben und wieder umkehren mussten und jetzt ohne Wasser und Nahrungsmittel in einer unter Raketenbeschuss stehenden Stadt sitzen.
In dem Film „Sieben Jahre in Tibet“ gibt es eine Szene, wo die Chinesen 1950 Tibet überfallen und die tibetische Armee mit ein paar Schrotflinten und verrosteten Mörsern das Land zu verteidigen sucht. Nach den ersten Angriffen sprengt der Gouverneur von Tibet die eigenen Munitionsvorräte die Luft, damit seine Armee nicht mehr kämpfen kann. Er wird dafür bespuckt und beschimpft, aber er ist der wahre Held, in meinen Augen. Er hat den Tibetern unendliches Leid erspart, indem er eingesehen hat, dass dieser Krieg nicht zu gewinnen ist. Natürlich, Tibet wurde dann von China besetzt und annektiert, was ebenfalls jahrzehntelanges Leid, Fremdherrschaft, Unterdrückung, Aufstände über das Land gebracht hat. Aber damals gab es auch keine Welt, die sich für Tibet interessiert hätte, die Zentralbanksanktionen gegen China ausgesprochen hätte, die Weltwirtschaftsanbindung Chinas heruntergefahren hätte, die Währung Chinas dem Verfall überlassen hätte, die Unternehmen Chinas der ruinösen Auslandsverschuldung überlassen hätte, die sonstigen Weltanbindungen Chinas (Sport, Wissenschaft, Kultur, …) abgeschnitten hätte.
Es steht mir nicht zu, den Ukrainern Ratschläge zu geben. Aber mein humanitäres Mitgefühl und mein kriegshistorischer Verstand schreien. Und ich glaube, sie schreien klarer als bei vielen Menschen, die weniger über Krieg gelesen haben, in eine Richtung, nämlich in die Richtung für den Schutz von Zivilisten und gegen die Behauptung politischer Ziele und politischer Größe. Kriege werden vom Verlierer entschieden. Die Welt schreit derzeit „End War“, und sie schreit es Putin entgegen. Aber es ist der Verlierer, der den Krieg beendet, indem er aufhört zu kämpfen. Diejenige Kriegspartei, die gut steht, hört nicht auf zu kämpfen in einer Phase, in der es vorangeht. Es ist die andere Seite, die Heldenmut – auch wenn er wie Hühnchenmut aussieht – beweisen muss.
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