Zweierlei Maß – Wie wir mit Flüchtlingen umgehen und warum es trotzdem ein Fortschritt ist

Nun hat sich die EU also bereit erklärt hat, viele Millionen ukrainische Flüchtlinge aufzunehmen, schnell und unbürokratisch. Das ist beruhigend und erschreckend zugleich.  Denn: Wie bitter ist das für die Syrer und Afghanen, die seit Jahren in griechischen oder türkischen Elendslagern sitzen, die wochenlang vor geschlossenen Grenzen campen oder auf Inseln festsitzen, weil wir ihnen die Weiterreise nicht erlauben oder sie mit physischer Gewalt daran hindern. Und jetzt kommen die Ukrainer und werden mit offenen Armen empfangen – ohne Asylverfahren, mit sofortiger Arbeitserlaubnis und freier Wahl des Aufnahmelandes. Wie ungerecht ist das. Wie sehr muss das schmerzen.

Ich habe hierzu zwei Runden von Gedanken, die erste spontan, die zweite angereichert mit Soziologie. Die erste ist: Wir sind doch nicht so weit, wie wir gedacht haben. Wir sind doch noch eine primitive Menschenhorde, die kaum der Tierstufe der Evolution entronnen ist. Wir lassen die mitlaufen, die genauso aussehen wie wir und zum selben Gott beten wie wir, und wir verstoßen die, die einen etwas dunkleren Teint haben und zu einem anderen Gott beten.

Da schließt an die Runde von Enttäuschung und Ernüchterung an, die ich seit 2017 erlebt habe, seit die EU ihren großzügigen Umgang mit Flüchtlingen zurückgenommen hat und mit Zähnen und Klauen, Zäunen und Stacheldraht, ihre Grenzen gegen ankommende Flüchtlinge verteidigt. Das hat in mir das Vertrauen in unsere politische Ordnung, nämlich in die Ernstgemeintheit von Menschenrechten, ein Stück weit zerstört oder angeknackst. Ich gehöre nicht zu denen, die Politik grundsätzlich für Heuchelei halten, Politiker für korrupt und Wertebekenntnisse für Ideologie und Augenwischerei. Ich glaube, dass die meisten Menschen, auch Politiker, ihren Beruf anständig und mit einem gewissen Berufsethos ausfüllen, und ich glaube, dass die Wertekataloge westlicher Demokratien tatsächlich ein tragendes Element unserer politischen Ordnung sind, auch wenn sie in Form von Bundespräsidentenreden und Feuilletonistenkommentaren manchmal schwer erträglich daherkommen. Aber angesichts von Menschen, deren Boote von der griechischen Küstenwache aufs offene Meer zurückgetrieben werden, oder die auf der EU-Seite der Grenze von kroatischen Grenzern wieder zurückgeprügelt werden, habe ich daran das erste Mal gezweifelt. Anscheinend ist das mit den Menschenrechten doch nicht so ernst gemeint, wenn das verbriefte Asylrecht dermaßen mit Füßen getreten wird.

Und nun also dies. Wenn die Flüchtlinge nur einwandfrei europäisch und christlich sind, nehmen wir sie bereitwillig auf – sogar Polen und Ungarn, die sich gegen muslimische Flüchtlinge zur Wehr gesetzt haben wie der Teufel gegen das Weihwasser. Das Asylrecht ist also kein Recht, das jedem Menschen gleichermaßen zusteht, sondern ein politischer Wille oder ein emotionaler Akt der Empathie, den man aufbringen kann oder auch nicht, der von unseren subjektiven Gefühlszuständen und politischen Solidaritäten abhängig ist.

Und hier fängt die soziologische Gedankenrunde an. Ich brauche dazu einen Satz Gesellschaftstheorie, nämlich den, dass die moderne Gesellschaft aus etwa zehn Funktionsbereichen besteht, zu denen Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Recht, Bildung, Massenmedien, Familien und noch ein paar andere gehören und die jedes nach seiner Logik vor sich hin operieren. Wenn man mit diesem gesellschaftstheoretischen Raster im Kopf anfängt, kann man aus dem zwiegespaltenen Umgang mit Flüchtlingen folgenden Schluss ziehen.   

Es ist noch nicht gelungen, das Asylrecht als Recht zu installieren. Statt dessen ist das Asyl„recht“ nach wie vor in hohem Maß eine politische Sache – wie es das ja auch früher war, etwa im Mittelalter und der Frühmoderne, als Fürsten nach Belieben z.B. Juden verbannten oder aufnahmen, wie es ihnen gerade ins politische oder finanzielle Kalkül passte. Es gibt zwar ein juristisch zertifiziertes Asylrecht, sowohl in Deutschland als auch in der EU, aber das trägt eben nur begrenzt weit. Es kann politisch ausgehebelt, eingeschränkt, sabotiert, unzugänglich gemacht werden (Salut Seehofer, Salvini, Órban und andere), oder es kann eben, wenn uns der politische Sinn danach steht, mit Großzügigkeit und menschlicher Wärme gehandhabt werden.

Offensichtlich ist auf dem jetzigen Stand der gesellschaftlichen Evolution – Stand 2022 – das Asylrecht noch mindestens ebenso sehr im politischen System wie im Rechtssystem verankert. Das ist ja auch nicht ganz schlecht. Das politische Teilsystem ist auch ein Teilsystem der Gesellschaft, es hat auch seine Vorzüge, seine Visionen, seine Kraft, seine Qualitäten.  An vielen Punkten rufen wir geradezu nach dem politischen System, das es richten soll – Klimawandel, soziale Gerechtigkeit, demographischer Wandel usw. –, und setzen gerade in das politische System, in seine Flexibilität, Einsichtsfähigkeit, Handlungsfähigkeit, unsere Hoffnungen. Es ist nicht notwendig, dass alles, was es gibt und was wichtig ist, ausgerechnet die Form eines Rechtsanspruchs hat. Die Quelle des heutigen Asylrechts und Flüchtlingsschutzes (Genfer Flüchtlingskonvention) ist die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs mit seinen Millionen Vertriebenen, also ein politischer Schock, der politisch aufgefangen und in eine Lernerfahrung übersetzt wurde.

Irgendwie ist es trotzdem nicht schön, das Asyl„recht“ als politische Verfügungsmasse auf dem Teller von hungrigen oder gesättigten, gut oder übel gelaunten Politikern liegen zu sehen. Ein Recht wäre besser – verlässlicher, gerechter, universeller. So stellt es sich dar für humanistisch gesonnene Europäer, und so stellt es sich erst recht dar für die syrischen, afghanischen, malischen, usw. Menschen, die das Pech haben, an unseren aktuellen politischen Stimmungslagen hängenzubleiben und dann ihr halbes oder ganzes Leben unter mehr oder weniger elenden, prekären, perspektivlosen Bedingungen verbringen zu müssen. Anscheinend hat das Rechtssystem noch (?) nicht die Kraft, einen Rechtsanspruch ernsthaft allen Menschen auf der Welt, auch Nicht-Staatsbürgern, also 8 Milliarden Menschen, gewähren zu können.

Aber auch ein politischer oder halb-politischer Status des Asyl„rechts“ ist immerhin besser als das Bauchgefühl, das sich bei soziologiefreier Betrachtung einstellt: Wir sind noch Affenhorden. Wir sind so gesehen immerhin politische Menschen, nur noch keine Rechtsagenten, keine Juristen, keine in kühlem Urteilen „ohne Ansehen der Person“ geschulten Rationalisten. Und das ist ja auch irgendwie paradox: den Anspruch des Menschen auf Menschenrecht in einer vom-Menschen-absehenden Weise zu implementieren.

Übrigens sind wir in unseren Reaktionsweisen nicht nur politische Menschen involviert, sondern auch als Massenmedien-Junkies (und Affen haben keine Massenmedien). Denn ein weiterer Grund, warum wir die Ukrainer so viel bereitwilliger aufnehmen als die Syrer und Afghanen, ist, dass „ihr“ Krieg besser zu unseren massenmedialen Aufmerksamkeitsstrukturen passt. Der Ukrainekrieg ist ein ganz „klassischer“ Krieg, wie er in der Welt nach 1945 Seltenheitswert hat: ein zwischenstaatlicher Krieg, geführt von regulärem Militär, mit regulären Waffen, mit einem klaren Anfang und – hoffentlich – einem klaren Ende. Er triggert deshalb all unsere Aufmerksamkeitsglocken: (1) Er kommt plötzlich, – er bricht aus“, wie es früher hieß –, er zieht uns in seinen Bann, hat eine enorme Ereignisdichte und Spannungskurve. (2) Er ist klar und einfach, jeder versteht, was passiert: Ein Land hat ein anderes überfallen. (3) Er triggert zusätzlich noch das kollektive Gedächtnis: Wir kennen das auch, denn das war bei uns vor nicht allzu langer Zeit auch so.

All diese Merkmale fehlen dem Syrienkrieg und dem Afghanistankrieg, die vielmehr die Form von langwierigen, drögen, unverständlichen, unübersichtlichen, schleichend beginnenden und nie endenden Kuddelmuddel haben, auf die man sich nie so richtig einlassen kann. Und auch deshalb gilt: Wenn ein „richtiger“ Krieg wie der Ukrainekrieg Flüchtlingsströme produziert, fallen diese auf ganz anderen, fruchtbareren, nämlich massenmedial bewirtschaftbaren Boden.

Was nun? Keine Ahnung. Die Hoffnung auf ein universalistisch geltendes, haltbares, einklagbares Asylrecht bleibt natürlich. Was nicht ist, kann ja noch werden. Vielleicht gibt die aktuelle Welle von Ukraineflüchtlingen unserer Entwicklung nochmal einen Schub. Vielleicht die nächste, oder die übernächste. Gesellschaftliche Evolution ist nie abgeschlossen. Wir stecken mittendrin, und der Zustand, in dem wir jetzt stecken, ist immerhin über das Affenstadium ein oder zwei Funktionssysteme weit hinaus.

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4 Kommentare zu „Zweierlei Maß – Wie wir mit Flüchtlingen umgehen und warum es trotzdem ein Fortschritt ist

  1. Tja, die Menschen sind eben verschieden und werden auch so wahrgenommen. Und zwischen Hundertausenden von jungen afroarabischen muslimischen Kerlen und europäischen Frauen und Kindern besteht schon ein ziemlicher Unterschied, beim Gewaltpotential angefangen. Aber der moralin- und haltungsbesoffene westliche Homo sapiens bonhomensis in seinem regenbogenfarbenen Wolkenkuckucksheim ist der Realität eben eher abgeneigt.

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      1. Eine fromme Theorie. Wenn Leute „zuwandern“ und sich aus obskuren Gründen per sé für etwas besseres halten – z. B. weil alle anderen „Ungläubige“ sind – habe ich kein Interesse daran, denen irgendwelche Rechte zuzugestehen.

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  2. PS: Wenn die Afroaraber sich die gleichen Verhaltensregeln in Europa auferlegen wie die meisten Bioeuropäer es tun, dann wäre das Problem schon etwas kleiner. Aber die meisten tun es eben nicht und deswegen will man sie nicht. Ich übrigens auch nicht.

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