
#EndWar und #StopPutin sind Hashtags und Transparente, die in den letzten Tagen oft nebeneinander zu sehen waren. Ich wage es kaum zu sagen, aber ich glaube, wir müssen uns fragen, ob diese beiden Dinge zusammenpassen.
#StopPutin heißt derzeit: #EscalateWar. Die Ukraine eskaliert in Richtung Volksaufstand oder Partisanenkrieg, Bewaffnung der Zivilbevölkerung, während Putin in Richtung auf Beschuss und Belagerung von Städten eskaliert. Das wird, wenn nicht trotzdem Russland innerhalb kurzer Zeit gewinnt, in einen langen, blutigen, schmutzigen Krieg führen. Wir wissen, wie Kriege dieses Typs aussehen. Es wird ein Krieg sein, in dem zwischen Kombattanten und Non-Kombattanten nicht sauber unterschieden werden kann, weil Zivilisten als Partisanen und Saboteure unterwegs sind; in dem Zivilisten zunehmend systematisch (nicht nur kollateral) zum Ziel von Angriffen werden, nämlich überall dort, wo die Russen Unterstützungs- und Sabotageaktionen vermuten; und in dem jeder russische Soldat in jedem Zivilisten einen potentiellen Partisanen mit Flinte in der Hand vermuten muss und deshalb bereitwillig, aus Angst um sein Leben, auf Zivilisten schießen wird. Ich bin lange Kriegsforscherin gewesen. Mir graut vor diesem Szenario.
Angesichts dieser Lage stellt sich die Frage, ob es nicht besser wäre, dem anderen Hashtag Priorität zu geben: #EndWar, und #StopPutin auf Pausenzustand zu stellen. Die Strategie wäre, die Ukraine relativ widerstandslos – jedenfalls ohne Volkskrieg, ohne Bewaffnung von Zivilisten – besetzen zu lassen, aber den Konflikt deshalb nicht als beendet zu betrachten, sondern die Sanktionen des Westens in voller Härte aufrechterhalten, bis Russland die Besatzung zurücknimmt und sich mit irgendwelchen Trophäen zufriedengibt, die die Sache als halbwegs lohnend erscheinen lassen können.
Falls Putin nicht mehr zu den ansprechbaren Menschen gehört, ist es möglich, dass man warten müsste, bis Putin weg ist. (Putin ist fast 70 und angeblich nicht bei bester Gesundheit.) Wenn – und ich fürchte: nur wenn – die Besetzung der Ukraine ohne allzu große Kosten und nationale Dramen für die russische Seite vonstatten gegangen ist, hätte eine Nachfolgerregierung die Chance, sie relativ undramatisch als politische Fehlentscheidung zurückzunehmen, um im Austausch dafür den SWIFT-Zugang, die Zentralbank-Assets usw. wiederzugewinnen. Wenn ein jahrelanger Krieg mit zehntausenden russischen Toten dahintersteht, wird diese Entscheidung schwieriger, weil dann jeder, der sie treffen wollte, das Image des Kriegsverlierers und der nationalen Schande auf sich nehmen müsste.
Das ist das Gesetz der „versenkten Kosten“, das aus der Kriegsforschung gut bekannt ist. Je mehr man schon in etwas investiert hat, desto erstrebenswerter erscheint es einem, und desto weniger ist man bereit, davon abzulassen. Die Logik lautet: „Jetzt erst recht“, und: „Die vielen Soldaten dürfen nicht umsonst gestorben sein.“ Die übliche Dynamik ist deshalb die, dass, wenn ein Krieg anfängt teuer zu werden, die Überzeugung von der Notwendigkeit des Krieges und der Größe der eigenen Mission wächst. Im Moment agieren wir auf Grundlage der Logik, dass sie sinkt.
Es ist sicher gut, dass es in den ersten Kriegstagen so effektiven Widerstand gegeben hat, dass Putin gezeigt worden ist, dass es so leicht nicht ist und dass das kein Spaziergang ist. Aber ab ungefähr jetzt ist es besser – so sagt mir meine Intuition als Kriegsforscherin –, die Kosten und Verluste des Krieges niedrig zu halten. Denn das vergrößert Putins Handlungsspielraum. Je teurer der Krieg für ihn ist, desto mehr ist er daran gebunden, ihn fortzusetzen und nicht ergebnislos abzublasen. Wenn man Putin ermöglichen will, sich bald und mit geringen Trophäen aus dem Krieg zurückzuziehen, muss man den Ball flach spielen, muss, soweit möglich, Dramatik rausnehmen oder jedenfalls nicht aufbauen. So sagt auch der Sicherheitsexperte Wolfgang Ischinger: Es geht darum, Putin einen gangbaren, gesichtswahrenden Exitpfad aufzuzeigen oder aufrechtzuerhalten.
Es ist klar: Russland führt einen vollkommen unprovozierten Angriffskrieg und damit einen schamlosen Angriff auf das Souveränitätsprinzip, das der internationalen Ordnung zugrunde liegt. Aber gerade angesichts der Fundamentalität dieses Angriffs muss man langfristig denken. Die Frage ist: Wie gibt es die größte Chance, dass die Ukraine in zehn Jahren ein souveräner Staat ist? (und idealerweise auch: ein blühendes Land) Ich habe gestern einen Artikel gelesen, der Willy Brandt im Jahr 1961, in Reaktion auf den Bau der Mauer, mit den Worten zitiert: „Wir anerkannten den Status Quo, um ihn zu verändern.“ Dieses Paradox müssen wir vielleicht auch hier durchdenken. (Gabor Steingart, Putins Krieg: Der Irrweg des Westens)
Damit das nicht einfach auf die Aufkündigung der Solidarität und das schrittweise Vergessen der Ukraine hinausläuft, muss der Westen entschlossen sein, an seinen beißenden Sanktionen solange wie nötig festzuhalten, „however long it takes“, um in der Sprache des europäischen Nachdrucks zu reden. In der Tat hat sich der Rest der Welt beeindruckend geschlossen und handlungsfähig gezeigt. Man sieht, wie mächtig die Waffen des nicht-militärischen Reagierens sind, wie stark die Kraft der globalen Verflechtung und die Waffe der Kontaktabschneidung. Uns stehen heute Mittel zur Verfügung, die es zur Zeit des Ersten und Zweiten Weltkriegs noch nicht gab. Die Möglichkeit, die russische Zentralbank zu blockieren und damit Putins „Kriegsschatz“ zu großen Teilen unbrauchbar zu machen, hat 1914 und 1939 schlicht nicht existiert. Zur Entschlossenheit des Westens gehört auch, dass wir viele Millionen Ukrainer viele Jahre lang aufnehmen, und zwar: gut aufnehmen und mit Chancen ausstatten, nicht: in elende Flüchtlingscamps stecken. (Nur als Gedankenexperiment: Wir nehmen 40 Millionen Ukrainer auf und überlassen den Russen ein leeres Land.) Auf die Solidaranstrengung, die das erfordern wird, können wir uns schon mal vorbereiten.
Die Strategie, den militärischen Widerstand flach zu halten, aber die Okkupation trotzdem nicht zu akzeptieren, würde den Westen stärker belasten und exponieren. Sie würde die westlichen Sanktionen als einziges Druckmittel auf Putin übriglassen. Die EU und die NATO würden sich damit mehr in die Schusslinie von Putins Auffassung stellen, dass der Westen mit seinen Sanktionen Krieg gegen Russland führt und folglich das nächste Ziel für Angriffe ist. Das ist bedrohlich. Hier wäre die Kunst der Diplomatie gefragt. Aber das wäre in meinen Augen die höchste Form der Solidarität mit der Ukraine.
Die Ukrainer haben bewundernswerten Mut gezeigt, und Selenskyj hat sich als charismatischer und authentischer Führer gezeigt, dem man nur mit höchstem Respekt und tiefer Sympathie begegnen kann. Aber Krieg ist eine Kippfigur. Jeder Krieg hat eine politische und eine nicht-politische Seite, er betrifft sowohl die politischen als auch die nicht-politischen Rollen des Menschen. Am Anfang dominiert die politische Seite, sie zieht alles in ihren Bann und rückt sich mit aller Dramatik ins Rampenlicht. Menschen handeln als Staatsbürger, als Patrioten, als gute Soldaten oder Partisanen. Aber das trägt nur eine begrenzte Zeit, und dann melden sich die anderen, verdrängten, an den Rand gestellten Rollen mit Macht zurück. Zerrissene Familien. Vaterlos oder mutterlos aufwachsende Kinder. Aus der Schule gerissene Schüler. Aus der Uni gerissene Studenten. Zerschmetterte Start-ups. Zerstörte Karrieren. Zurückgestellte OP-Patienten. Aus der Bahn geworfene Sportler. Um ihre Chance gebrachte Künstler. Verschobene Hochzeiten. usw. usf. Es gibt ungefähr zehn Rollenbereiche in der modernen Gesellschaft – Familie, Wirtschaft, Bildung, Wissenschaft, Recht, Kunst, Religion, Massenmedien, Gesundheit, Sport –, die alle zu ihrem Recht kommen wollen, die alle ihre Chancen, Eigendynamiken, Zukunftsprojektionen haben. Sie lassen sich nur begrenzte Zeit zurückstellen. Der Krieg, wenn er einmal eskaliert ist, dauert fast immer viel länger, als die anderen Bereiche tolerieren können. Dann kommt die Zeit der Durchhalteparolen und des namenlosen Leidens.
Ich weiß, dass ich mit dieser Haltung im Moment ziemlich allein dastehe und mich zur defätistischen und unsolidarischen Unkenruferin mache. Dabei bin ich nicht mal Pazifistin, bin nie Pazifistin gewesen. Aber man darf einen Krieg nur führen, wenn man eine Chance hat zu gewinnen. Ich vermute, ich bin einfach Humanistin geworden, schleichend und ohne es zu wissen – wie wir alle Humanisten sind, die wir in einer 70 Jahre kriegsfreien Gesellschaft zu leben das Glück haben.
Man darf auch nicht vergessen, dass nicht alle Ukrainer, die jetzt für die Landesverteidigung bereitstehen, das freiwillig tun. Manche tun es freiwillig, stellen sich mit bloßen Händen russischen Panzern entgegen, basteln Molotowcocktails, bauen Barrikaden. Andere wollen mit ihrer Familie ausreisen und werden an der Grenze zurückgehalten (nach einer Schätzung sind das bisher schon 80.000). Zu Heldenmut darf niemand gezwungen werden. Und Familien dürfen, wo vermeidbar, nicht auseinandergerissen und in permanente Angst umeinander geworfen werden. Ein junger Mann mit Panzerfaust auf der Schulter oder Sturmgewehr in der Hand berührt unser Herz und unseren politischen Verstand. Aber manche dieser Menschen werden später mit verfetzten Gliedern im Wald liegen, und manche ihrer Familien werden für Jahre und Jahrzehnte mit Traumatisierungen weiterleben. Das muss man mitdenken und mitsehen.
Als ich 20 war, hätte ich mich bedenkenlos für die richtige Sache in den Krieg geworfen. Heute, wo ich 47 bin, nicht mehr. Dazwischen bin ich zehn Jahre Kriegsforscherin gewesen, und zwanzig Jahre Gesellschaftstheoretikerin. Ich weiß, wie die Dynamik eskalierender Kriege aussieht, und ich weiß, dass der politische Rollenbereich nur einer in einer Reihe von Rollenbereichen ist, die die Existenz des modernen Menschen tragen, damit letztlich in der Minderzahl ist. Die anderen Bereiche können und müssen Opfer bringen für den politischen Bereich. Aber es ist gut und menschlich und weise, diese Opfer zu begrenzen.
(Wer mehr lesen will: Ein Kapitel zu Krieg dem „Rest der Gesellschaft“ aus meinem Kriegsbuchs steht hier Download bereit: https://www.familientherapie-kuchler.de/weiterlesen)
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Sehr interessant. Vielen Dank. Genau zu dem Thema hatten wir vor einer Woche Familienknatsch im Auto – uns fehlten diese Vokabeln und Argumente für ein gutes Gespräch.
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