Die Vernunft sitzt im Militär

Jetzt sind also die russischen Atomstreitkräfte aktiviert, und der Wahnsinn hat sich eine Schleife weitergedreht. Aber auch abgesehen davon, dass es immer noch sehr unwahrscheinlich ist, dass Putin wirklich einen Atomschlag befiehlt: Es ist gut möglich, dass, wenn er einen Atomschlag befehlen würde, sein Militär ihn nicht ausführen würde.

Offiziere sind in der Regel vernünftige Leute. Sie sind hoch professionalisiert und dafür ausbildet, einen kühlen Kopf zu bewahren. Die oberste Mission eines jeden Militärapparats ist Sicherheit, und Offiziere sind geschult in Urteilskraft. Sie können erkennen, ob die Sicherheit ihres Landes bedroht ist oder nicht. Auch wenn die politische Führung des Landes durchgedreht ist (und wir müssen uns Putin als einen durchgedrehten Menschen vorstellen): Generäle und Admirale wissen, dass man einen SWIFT-Ban nicht mit einem Atomschlag beantworten kann.

Zu den obersten Prinzipien des Militärs gehört natürlich Gehorsam und das Ausführen von Missionen. Aber das ist nicht das einzige Prinzip. Gute Urteilsbildung gehört auch dazu, und damit in letzter Konsequenz auch die Möglichkeit der Befehlsverweigerung. Das ist natürlich nur die ultima ratio des Militärs – so wie Krieg die ultima ratio der Staaten ist. Aber die Möglichkeit der Befehlsverweigerung wird im Militärdiskurs immer schon mitgedacht. In westlichen Militärs ist es sogar so, dass der Soldat zur Befehlsverweigerung verpflichtet ist, wenn erkennbar ist, dass der Befehl klar rechtswidrig ist. Ich weiß nicht, ob das im russischen Militär auch so ist. Aber darauf kommt es auch nicht an.

Worauf es ankommt, ist, dass kein Mensch ganz allein über eine Atomstreitmacht verfügt. Er braucht andere, die die Befehle weitergeben, die Codes aus dem Safe holen, die Koordinaten eingeben. Er braucht einen Apparat oder ein System, und ein System enthält immer mehrere Schienen von Strukturbildung. Es enthält neben den formalen Strukturen – Hierarchien, Vorschriften, Satzungen – auch informale Strukturen, etwa eingelebte Gewohnheiten, kollegiale Absprachen, implizite Verständigungen, die meist unsichtbar bleiben und unter dem Radar durchfliegen, aber doch hohe Strukturkraft für das System insgesamt haben.

Diese informalen Strukturen können – wie im Normallauf – mit den formalen gut mitziehen und diese nur quasi von der Seite unterstützen und milde korrigieren. Sie können aber auch in pointierten Gegensatz zu den formalen Strukturen geraten. Und ich würde wetten, dass jetzt ein Moment ist, wo im russischen Militär, und in NATO-Kreisen, die Widerstandskraft dieser informalen Strukturen aktiviert wird. Hier liegt die kollektive Vernunft der Menschheit im Moment.

Ich halte es für möglich, dass NATO-Offiziere ihren russischen Kollegen Angebote in dieser Richtung zukommen lassen, etwa Asylangebote für den Fall, dass ein solcher Befehl verweigert wird und die Zuständigen sich in den Westen absetzen. Zu solchen Zwecken hat das Militär internationale Kommunikationskanäle eingerichtet, könnte man im Vertrauen auf die Liste der Vernunft sagen; denn natürlich sind die Kanäle nicht eigentlich zu diesem Zweck eingerichtet worden, aber – so behaupte ich soziologisch – doch auch zu diesem Zweck.

Es ist deshalb klug, wenn die NATO auf die Aktivierung der russischen Atomstreitkräfte mit „Ignorieren“ reagiert, wie ein Sicherheitsexperte in der ARD vorgeschlagen hat – um die Realitätsdefinition auf niedrigeren Levels zu halten und Putin mit seiner Realitätsdefinition allein zu lassen. Das heißt nicht, dass in Brüssel und überall bei der NATO jetzt nicht hektisch geplant, gearbeitet, vorbereitet wird, und jeder in Moskau weiß das. Aber die formale Reaktion wird in einer Weise eingestellt, dass das russische Militär maximale Möglichkeiten hat, die Situation als „Ausraster der politischen Führung, bei nicht bestehender Bedrohung der Sicherheit Russlands“ zu definieren.

Die informalen Strukturen von Organisationen sind teils eine Spielwiese für die abgehängte Menschlichkeit ihrer Mitglieder – für Klatsch, Tratsch, Erholung, Zigarettenpausen. Aber nicht nur. Teils sind sie auch eine Art Komplementärvernunft des Systems, die unterbelichtete, auf der Strecke gebliebene Aspekte der Welt im Modus des ungeschriebenen Gesetzes und des gesunden Menschenverstands wieder reinbringt.

Dafür gibt es natürlich keine Garantie. Aber es gibt eine Chance, dass die Unvernunft des Einen durch die kollektive, verstreute Vernunft der Anderen ausgeglichen werden kann. Ich hätte nie gedacht, dass ich meine Hoffnungen – noch nicht wirklich: Überlebenshoffnungen, aber sagen wir: Normalitätshoffnungen – mal auf russische Offiziere setzen würde. Aber so hält das Leben immer neue Überraschungen bereit.

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