
Es gibt nichts, womit Putins Angriffskrieg gerechtfertigt werden kann. Aber es ist nützlich, ein bisschen etwas darüber zu wissen, wie es in der „Seele“ von Großmächten aussieht. In der Innenperspektive sind Großmächte sehr verwundbare Wesen, sie sind leicht „gekränkt“, und zwar aus strukturellen Gründen – also nicht (nur) aus individueller Paranoia, sondern auch aus Gründen, die im System liegen, hier: dem internationalen politischen System.
Großmächte scheinen groß, mächtig und unverwundbar zu sein. Aber sie fühlen sich nicht so, wenn man das Wort „fühlen“ hier verwenden darf – gemeint im Sinn von Selbstwahrnehmung und Selbstverständnis eines Politik- und Militärapparates. Das ist ein paradoxer Zusammenhang: Eben weil sie die größten „Machtklumpen“ oder Machtballungen auf der Erde sind, werden sie öfter angegriffen, können leichter symbolische (und in der Folge vielleicht reale) Beschädigungen erleiden und haben mehr Gegner, Feinde und Herausforderer, die an ihrer Machtposition kratzen.
Genauer betrachtet gibt es folgende Besonderheiten der Position von Groß- und Weltmächten im internationalen System, im Vergleich zu „normalen“ Staaten (Klein- und Mittelmächten): (a) Sie sind mit mehr Dingen und Umständen auf der Welt verbunden, d.h. sind stärker interdependent, und haben mehr Interessen an mehr Stellen der Erde, die durch irgendwelche Vorkommnisse tangiert werden können. (b) Sie haben mehr Feinde, weil ihre Vormachtstellung systematisch Widerstand, Opposition, Herausforderung provoziert, und sie werden stärker beobachtet. (c) Sie können durch kleine Schwächemomente oder lokale Niederlagen mehr Schaden erleiden, nämlich einen symbolischen Machtverlust oder Gesichtsverlust, der weitere Herausforderungen anderswo nach sich ziehen kann.
Es lebt sich also keineswegs leicht als Großmacht, auch wenn das von außen so scheint. (Wie ja auch das Leben eines Königs kein schönes, leichtes, angenehmes ist, auch wenn der Zaungast, der die goldene Kutsche vorbeifahren sieht, sich das so vorstellen mag.) Es ist vielmehr eine Position, die permanente Wachsamkeit und „Verteidigung“ – nämlich Verteidigung der eigenen Machtposition – erfordert und darin einen strukturellen Zug zur Paranoia hat.
Putins Angriff auf die Ukraine ist vermutlich zu großen Teilen „irrational“, durch irgendwelche psychischen Ausraster und Ausnahmezustände Putins bedingt. Putin war lange Zeit ein rationaler, kühler, pragmatischer Spieler. (Das war der Grund, warum viele Beobachter überzeugt waren, dass er mit seinen waghalsig-aggressiven Sinnesbekundungen „Chicken Game“ spielt und nicht seine wahren Absichten kundtut.) Jetzt scheint er irgendwie durchgedreht zu sein. Aber trotzdem liegt hinter dem russischen Agieren zu gewissen Teilen eine Großmachtproblematik, die nachvollziehbar ist und mit der prekären Stellung Russlands als Ex-Weltmacht und um-Großmachtstellung-kämpfender, statusunsicherer Macht zu tun hat.
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