
In irgendeinem Lockdown und einer der endlosen Homeschooling-Wochen habe ich meinem 13-jährigen Sohn eine Portion Dönerfleisch mit Reis vom Dönerladen mitgebracht. Man muss wissen, dass das seine Leibspeise ist und dass wir ansonsten mehrheitlich eine Vegetarierfamilie sind, um nachvollziehen zu können, was sich in den nächsten zwei Sekunden auf seinem Gesicht abgespielt hat: eine blitzartige Abfolge von überschäumender Freude und Überraschung („Echt? Dönerfleisch?? Für mich???“), tiefer Liebe und Dankbarkeit („Daaaaaaanke, dass du mir das gekauft hast!!“), und animalischer Gier und Futterneid („Meins!!! Verschwinde und nimm mir keinen Bissen weg!!“). Das alles kam in solcher Reinheit und so rasantem Wechsel, dass es eine Freude für jeden Psychologiestudenten gewesen wäre.
Ungefähr so, nur etwas weniger im Zeitraffer, muss man sich aber auch den Normalzustand unseres Gefühlshaushalts an einem normalen Tag vorstellen. Wir haben alle einen bunten Strauß von Emotionen in uns, die keineswegs miteinander abgestimmt sind, oft sehr roh und ungeformt sind, manchmal nach außen nicht darstellbar sind und schon auf dem Weg nach außen abgeblockt werden. Sie sind aber trotzdem da und entfalten auf die eine oder andere Art ihre Wirkung, und wir müssen irgendwie damit umgehen.
Meistens kann man besser damit umgehen, wenn man weiß, um was es sich handelt. Das wissen wir aber oft nicht. Wir sind nicht gut geschult für das Erkennen von Gefühlen. Wir kriegen so viel beigebracht in dieser Gesellschaft: wie man Silben richtig trennt, wie man Schulhofkonflikte löst, wie man linksabbiegt und wie man einen Stimmzettel bei der Kommunalwahl ausfüllt. Nur wie man mit dem Feuerwerk an Emotionen umgeht, das wir in uns haben, bringt uns keiner bei.
Kleine Kinder bekommen dabei manchmal noch Hilfe. „Jetzt bist du wütend“, sagen Eltern zu dem Kleinkind, das den Tisch haut, an dem es sich gestoßen hat, damit es sein Gefühl benennen lernt. Als Erwachsene bekommen wir keine Deutungs- und Sortierhilfe für unsere Gefühle mehr, obwohl wir das auch manchmal gebrauchen könnten – nämlich dann, wenn Gefühle so vielfältig, so widersprüchlich, so heikel, so schmerzhaft, so verboten sind, dass sie unseren inneren Erkennungsdienst überfordern.
– „Jetzt schämst du dich“, könnte man dem Investmentbanker sagen, der einen Termin vergeigt hat und danach seine Mitarbeiter anmotzt, oder der Professorin, die im Seminar nicht gut performed hat und danach ihrer Sekretärin eins auf den Deckel gibt.
– „Jetzt bist du wütend“, könnte man dem Menschen sagen, der in der Partnerschaft lange Jahre die eigenen Bedürfnisse hintangestellt hat, wenig dafür zurückbekommen hat und darüber in depressive Stimmungen verfällt.
– „Jetzt bist du verletzt“, könnte man dem Menschen sagen, der gegenüber einem Partner, der ihm absichtlich oder unabsichtlich tiefen Schmerz zugefügt hat, in endloses Räsonieren, Argumentieren und Rationalisieren verfällt.
– „Jetzt bist stolz auf dich“, könnte man dem Menschen sagen, der eine besonderen Leistung gebracht und Kollegen überflügelt hat, aber eine Haltung von Bescheidenheit, Sich-Zurücknehmen und Sich-selbst-Kleinmachen gelernt hat.
– „Jetzt bist du froh“, könnte man dem Menschen sagen, dessen Familienmitglied nach langen Jahren der Krankheit und des Leids gestorben ist, aber der „weiß“, dass man sich über einen Todesfall nicht freut.
Psychologen sagen, es gibt so circa sechs oder acht oder zehn Grundgefühle (die Zählungen schwanken leicht, je nach dem, wen man fragt). Das ist eigentlich eine kleine Zahl, gemessen an dem, was wir sonst an Regeln und Komplexitäten im Kopf haben. Trotzdem sind hier endlose Verwechslungen und Verschiebungen möglich. Dem Menschen sind aus Gründen, die mit seiner Menschlichkeit zu tun haben (Bewusstsein! Sozialität!), innere Zensurmechanismen mitgegeben. Er hat keinen so direkten Zugang zu seinen Impulsen wie die Tiere, die sich nicht – oder weniger – von dem, was sie sind, distanzieren können. Menschsein ist ein gemischter Segen. Um damit fertigzuwerden, gilt der Satz von Virginia Satir: „Das Leben ist nicht das, was es sein sollte. Es ist, was es ist. Die Art und Weise, damit umzugehen, macht den Unterschied.“