
Im letzten Eintrag ging es um die Opfer der romantischen Liebe. Neben diesen gibt es aber auch Opfer der modernen Kleinfamilie. Diese beiden Formen des Zusammenlebens – Liebesbeziehungen und Kleinfamilien – beruhen ja auch beide auf demselben Prinzip: dem Prinzip eines sozial engen und emotional dichten, man kann auch sagen: intimen zwischenmenschlichen Zusammenlebens. Dieses Prinzip war in der Gesellschaftsgeschichte nicht immer schon aktiv, auch wenn man das spontan denken mag. Es hängt vielmehr mit der Herausbildung der modernen Gesellschaft und der Herausbildung einer Privatsphäre (im Unterschied zur öffentlichen Sphäre) zusammen, auch mit der größeren sozialen und geographischen Mobilität des modernen Menschen, der im Lauf seines Lebens öfter mal umzieht und auch in Berufs- und Karrierewegen oft den Kreis seiner Herkunft verlässt.
Die moderne Kleinfamilie hat unbestrittene Fortschritte mit sich gebracht, etwa emotionale Geborgenheit ihrer Mitglieder und die „Entdeckung der Kindheit“, d.h. die Anerkennung der Kindheit als eigener Lebensphase mit spezifischen Bedürfnissen, Entwicklungs- und Entzückungspotentialen. Auf ihrer Schattenseite bringt die moderne Kleinfamilie aber auch Risiken mit sich. Zu den potentiellen Opfern gehören in diesem Fall: (1) Paarbeziehungen, (2) Kinder, soweit sie in Familien mit wenig förderlichen psychosozialen Strukturen aufwachsen, und (3) alte Menschen.
(1) Das erste Opfer der Familie ist, so paradox das klingt, die Paarbeziehung. Eine mehr oder weniger liebevolle Paarbeziehung ist einerseits der Kern und Ausgangspunkt der Familie, oder jedenfalls vieler Familien. Andererseits aber ist – wie jeder, der Kinder hat, weiß – Paarleben mit Familienleben gar nicht so ohne weiteres kompatibel. Vielmehr können sich diese beiden Prinzipien des Zusammenlebens durchaus heftig aneinander reiben. Mit dem Eintritt von Kindern ins System wird der vorher geltende Modus des innigen zweisamen Zusammenseins und Sich-aufeinander-Einlassen ersetzt durch die Mühle des endlosen täglichen Trubels und der Turbulenzbewältigung. Wo vorher Platz für einfühlsame Gespräche und kleine zärtliche Gesten war, hat man es nachher mit dem Füllen von Pausebrotboxen, dem Beschaffen von Lillifeerucksäcken und dem Pflegen von Geburtstagseinladungskalendern zu tun. Das erste Prinzip gerät angesichts des zweiten oftmals unter die Räder, und man weiß nicht, wie man es wieder zurückholen soll. Nur der eingespielte kulturelle Mythos gaukelt uns vor, dass aus glücklichen Paaren auf natürliche Weise glückliche Familien werden, die sonntags lachend zusammensitzen und innige Paarblicke ebenso wie liebevolle Eltern-Kind-Momente teilen. In Wirklichkeit ist, wie statistisch vielfach erwiesen, die Geburt eines Kindes eine Gefährdung und Belastung der Paarbeziehung, die dadurch manchmal schleichend gesprengt, manchmal auch nur eine vorübergehende Winterschlafphase versetzt wird.
Paarbeziehung und Familienleben sind bei Licht betrachtet eigentlich ziemlich inkompatibel, jedenfalls auf dem Anspruchsniveau, auf dem wir beide heutzutage verstehen. Es gibt deshalb Soziologen, die sagen: Paarbeziehung und Familie sind zwei verschiedene Soziallogiken oder Funktionslogiken, die aus biologischen Gründen unglücklich miteinander ins selbe System gesperrt sind. Das sagt etwa Hartmann Tyrell, der auch von einer „riskanten Kopplung von Partnerschaft und Elternschaft“ spricht. Gesellschaftstheoretisch gesehen ist diese Kopplung eigentlich eine unmögliche oder jedenfalls mangelhaft vorbereitete Aufgabe, an der zu basteln jeder Familie immer wieder neu aufgegeben wird.
(2) Diejenigen Menschen, die dem Familienleben am stärksten und alternativlosesten ausgesetzt sind, sind die Kinder, die dort ihre frühesten psychosozialen Prägungen erfahren. Kinder können von einem guten Familienklima unendlich profitieren: Sie können Liebesfähigkeit, Konfliktfähigkeit, Humor, Dickhäutigkeit, Entfaltungsfreiheit und eine angewandte „Ethik des Anderen“ lernen. Aber wenn Kinder das Pech haben, in einer Familie mit stark verknoteten oder verkrüppelten Beziehungsmustern aufzuwachsen, dann werden sie eben dadurch entsprechend geprägt, denn die moderne Kleinfamilie mit ihrer räumlichen und sozialen Enge beschränkt die Ausgleichsmöglichkeiten und verstärkt die negativen Effekte der vorhandenen Beziehungsmuster. Wenn Kinder etwa von dauerbeanspruchten, mit eigenen Problemen beschäftigten Eltern nicht richtig wahrgenommen und emotional beantwortet werden, oder wenn sie umgekehrt von überengagierten und überidentifizierten Eltern mit permanenter Aufmerksamkeit, miteilenden Gedanken und wohlmeinenden Vorschlägen überflutet werden, oder wenn sie von ehrgeizigen Eltern mit allzu hochtrabenden Erwartungen an Leistung und Erfolg ins Leben geschickt werden, dann kann das ihre psychosoziale Entwicklung prägen und ihnen bestimmte Möglichkeiten einer freien, ihre Bedürfnissen entsprechenden Entfaltung nehmen.
Nun haben Kinder natürlich immer schon – die ganze Gesellschaftsgeschichte hindurch – Eltern gehabt, die ihre eigenen Probleme, Macken, Schmerzpunkte und Schmerzvermeidungsstrategien hatten und durchs Leben getragen haben. Aber vor der Durchsetzung der modernen Kleinfamilie gab es meist mehr Möglichkeiten, solche Mängel und Macken durch soziale Kontakte anderswo auszugleichen: Es gab Tanten, Onkel, Omas, Opas, Cousins, Cousinen, Nachbarn, Lehrer, usw., die im täglichen Leben greifbar und ansprechbar waren und für manche Kinder erstrangig wichtige Bezugspersonen waren. Diese Ausweich- und Ausgleichsmöglichkeiten sind unter Bedingungen eines modernen städtischen Lebens mit kleinen, abgeschlossenen Wohnungen meist nicht mehr gegeben. Es gibt den alten Spruch: Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen. Nun, es braucht vielleicht nicht unbedingt ein ganzes Dorf, aber jedenfalls stand früher oft ein ganzes Dorf zur Verfügung als Pool für die Suche nach Beziehungsangeboten, die dem Kind gut taten, die ihm entsprachen, die irgendein Potential in ihm hervorlocken und zur Entwicklung bringen konnten. Im Vergleich dazu sind heutige Kinder viel schicksalhafter auf die ein bis zwei Menschen angewiesen, die ihnen der Zufall der Geburt als Eltern beschert hat. Man kann deshalb vermuten – aber das ist eine reine Vermutung ohne empirische Überprüfung –, dass die Stringenz der Weitergabe von Mustern von Eltern an Kinder, und ggf. Großeltern an ihre Enkel, sich mit der Moderne verschärft hat und umgekehrt die Variabilität der Muster von einer Generation zur nächsten sich verringert hat.
(3) Schließlich gibt es noch eine dritte Opfergruppe, die meist nicht im Zusammenhang mit der Kleinfamilie diskutiert wird, sondern als gesondertes Problem. Die Gruppe, die ich meine, sind die Alten. Die europäisch-westlich geprägten Länder sind bekannt dafür, dass wir unsere Alten in Heime stecken und dort oft einsam und kontaktarm ihren Lebensabend verbringen lassen, statt sie warm und dicht betreut in der Familie alt werden und sterben zu lassen. Man kann das kalt und herzlos finden, und viele Menschen aus anderen Kulturkreisen empfinden das so. Wenn man einem Afrikaner ein deutsches Pflegeheim zeigt, ist er fassungslos und sagt, dass dort, wo er herkommt, die Alten geschätzt und geehrt werden und selbstverständlich bis zum Tod im Haushalt der Kinder leben – wo sonst?
Ich glaube aber: Der Grund dafür, warum alte Menschen bei uns im Heim leben, ist nicht unsere Herzlosigkeit, sondern das System der modernen Kleinfamilie, das die Aufnahme weiterer, nicht zum Kernpersonal gehörender Personen nicht ertragen würde. Die Kleinfamilie ist ja ohnehin schon – auch als Zwei-Generationen-Familie – ein hochkomplexes und hochfragiles Gebilde, in dem vielerlei Bedürfnisse und Erfordernisse ausbalanciert werden müssen und das ohnehin schon oft nicht gelingt. Eine weitere Person, die eigene Bedürfnisse und Macken, Verträglichkeiten und Unverträglichkeiten einbringt, wäre eine zu starke Unwucht im System. Eine solche Person würde erstens die Intimität und zweitens die Balance des Paares stören, da sie unweigerlich enger mit dem einem Partner (dessen Mutter/Vater sie ist) verbunden wäre als mit dem anderen und da sie sich schwerlich als erwachsene Person mit eigenen Beziehungswünschen, Konfliktangeboten, Weltvorstellungen unsichtbar machen könnte. Für Kinderbetreuungszwecke könnte so eine Person unter Umständen praktisch sein, aber für sie die Gesamtbalance der Familie wäre sie vermutlich zu viel. Es ist also ein Nebeneffekt der Verdichtung der modernen Kleinfamilie, die die alten, ehemaligen? Familienangehörigen „hinten runterfallen“ und aus dem System herausfallen. Den Gewinn aus dieser Familienstruktur streichen wir, wenn wir Glück haben, in jüngeren bis mittleren Jahren ein. Den Preis zahlen wir, wenn wir alt sind.
Für den Fall, dass diese Beschreibung zu tragisch oder düster klingt, möchte ich noch einmal darauf hinweisen, dass jede größere soziale Struktur Kosten und Pathologien erzeugt (s. Eintrag zu Opfern romantischer Liebe) und dass ich das moderne Familienleben nicht generell in einem schwarzen Licht zeichnen möchte. Die Vorteile sind offensichtlich, und ein Zurück-in-die-Vergangenheit ist sowieso nicht möglich. Es ist nur nötig oder jedenfalls hilfreich, auch die andere Seite der Medaille mit im Blick zu haben, wenn man mit einer so unwahrscheinlichen und so wenig erprobten Lebensform wie der modernen Paarbeziehung und der modernen Kleinfamilie zurechtkommen will.
Scharfsinnige Analyse. Dass die ältere Generation aufgrund des Kleinfamiliensystems geopfert wird war mir so noch nicht klar. Ist vielleicht auch ein urbanes Problem, da für Großfamilien bezahlbarer Wohnraum fehlt, um die Konflikte zu entzerren.
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