
Ein Grundsatz der Psychologie lautet: Es kann immer auch andersrum sein. Oder in den Worten des systemischen Therapeuten Ulrich Clement: „Das Gegenteil könnte immer auch zutreffen.“ (Dynamik des Begehrens, S. 10) Das gilt nirgends mehr als für die Frage, was Kinder aus ihrem Aufwachskontext mitnehmen. Eltern geben ihren Kindern immer und unweigerlich Prägungen mit – aber was die Kindern dadurch an Prägungen mitnehmen, dafür gibt es immer mindestens zwei Möglichkeiten.
Für den Anfang kann man es sich so denken: Das Kind kann entweder genauso werden wie seine Eltern oder gerade nicht so. Wer kennt nicht Menschen, die von ihren Eltern in ein katholisches Internat geschickt wurden und daraus einen lebenslangen Atheismus mitgenommen haben, oder ähnliches. Wenn man es komplexer mag, kann man den Möglichkeitsraum auch von zwei auf drei erhöhen und sagen: Es gibt immer drei Möglichkeiten, wie ein Kind auf etwas, was die Eltern ihm vorleben, reagieren kann. Es kann (a) entweder genauso werden wie die Eltern, durch Imitation und Modelllernen. Oder es kann (b) den komplementären Part übernehmen, also die ergänzende Rolle, die die Elternrolle zu einem Ganzen vervollständigt. Oder es kann (c) in den Widerstand gehen, in die Opposition gehen, das Gegenteil machen, ganz etwas Anderes machen. Das sind theoretisch die drei Möglichkeiten, die einem eine deutlich besetzte Position im sozialen Raum für die Selbstpositionierung lässt.
Nehmen wir zum Beispiel an, ein Kind wächst mit einem Vater oder einer Mutter auf, der/die ein geborener Unterhalter und Menschenbegeisterer ist, gern mit großer Geste auftritt und das strahlende Zentrum jeder Geselligkeit ist. Das Kind kann dann (a) genauso werden, ebenso einen unwiderstehlichen Charme und charismatische Qualitäten entwickeln. Oder es kann (b) in die Position des Bewunderers und „Followers“ gehen, der im Glanz dieser Sonne mitscheint und selbst klein und unscheinbar bleibt. Oder es kann (c) zum Stoffel und sozial desinteressierten Nerd werden, der sich aus der ganzen Dimension des Geselligseins, Gefallens und Applaudierens heraushält und lieber andere Dinge macht.
Oder nehmen wir ein Kind, das eine(n) sehr tüchtige(n) und zupackende(n) Vater oder Mutter hat, der/die dafür wenig Gefühle zeigt, also in der praktischen Seite des Lebens stark, in der emotionalen Seite schwach verankert ist. Dann kann das Kind entweder (a) auch praktisch und effizient werden, ein „Funktionierer“, der alles gut hinkriegt, aber sich mit Gefühlen schwertut. Oder es kann (b) den emotionalen Part übernehmen, die „Sonne“ der Familie sein, für Lächeln, gute Stimmung und Verbindung sorgen. Oder es kann (c) dysfunktional werden, ein Störer, Schulschwänzer, Studienabbrecher und Nicht-Funktionierer.
Nehmen wir schließlich ein Kind, das mit strengen und überwachenden Eltern aufwächst, denen „Bravsein“, gutes Benehmen, äußerer Eindruck wichtig sind und die auch selbst niemals unkontrollierte Gefühle zeigen. Dann kann das Kind (a) selbst genauso beherrscht und kontrolliert werden, sein Leben lang ein braver Bürger und leiser Nachbar sein. Oder es kann (b) gewissensschwach und undiszipliniert werden, sich stets auf Kontrolle und Begrenzung von außen verlassen. Oder es kann (c) ein Rebell und Neuerer werden, der sich überall gegen konventionelle Schranken zur Wehr setzt, bürgerliche Lebensformen einreißt und sich kleine Nischen des freien Lebens schafft.
Solche und ähnliche Dynamiken finden sich in der Lebenslinie von Menschen tausendfach wieder. Dabei sind das natürlich alles nur Tendenzen; ich habe hier eine Dynamik herausdestilliert, die in Wirklichkeit nur aspekthaft, partiell, facettenweise vorliegt, als ein Strang von vielen in einer komplexen Biographie und Persönlichkeit, nicht eine Totalbeschreibung der Person abgibt. Welche der drei Positionierungsmöglichkeiten genutzt wird, hängt von vielen Faktoren ab: von charakterlichen Anlagen des Kindes; von Geschwistern, die bestimmte Positionen schon besetzen und das Auswahlfeld einschränken; vom mehr oder weniger deutlichen Schubsen der Eltern in die eine oder andere Richtung; usw. Die „Wahl“ einer bestimmten Möglichkeit kann nicht vorhergesagt, sondern nur hinterher rekonstruiert werden.
Es kann auch sein, dass Lösungen gefunden werden, mit der mehrere dieser Positionen gleichzeitig besetzt werden können. Das ist sogar recht häufig, weil der Mensch psychologisch so funktioniert, dass er am liebsten die Lösungen mag, die möglichst viele unbewusste Anforderungen gleichzeitig bedienen. Hierzu noch ein Beispiel, das die enorme Kreativität und auch Hinterlistigkeit der unbewusst von uns gefundenen Lösungen deutlich macht.
Ein Junge wächst mit einem harten, autoritären, strafenden Vater auf und zieht daraus unbewusst die Lehre, dass man sich vor Macht hüten muss, speziell: vor willkürlicher Macht, Macht ohne Kontrolle, Macht ohne Begründung. Deshalb studiert er als junger Mann Philosophie, weil es dort Begründungen gibt: In der Philosophie ist nichts willkürlich, alles ist durchdacht, dem Wirken der Macht wird das Wirken des Geistes entgegengesetzt. Er geht also in die Gegenposition zu dem, was er am Vater erlebt hat: Denken statt Macht, Argumente statt Schläge, Gewissheit statt Willkür.
Allerdings entwickelt er durch die langjährige Beschäftigung mit Philosophie mit der Zeit eine Haltung der intellektuellen und moralischen Überlegenheit, gegenüber Menschen in seinem Umfeld ebenso wie gegenüber politischen Strömungen und Großwetterlagen. Seine Haltung ist: „Ich weiß, was richtig ist, denn ich habe es durchdacht. Wenn du es anders siehst, hast du es nicht kapiert.“ Politisch vertritt er zunehmend radikale, kapitalismus- und demokratiekritische Positionen und kann mit der real existierenden Demokratie wenig anfangen, weil da zu viele Leute unterwegs sind, die zu wenig denken. In der Familie tritt er seiner Frau gegenüber zunehmend hart und kompromisslos auf, fühlt sich bei allen Streitfragen im Recht und lässt keine Meinung neben seiner gelten. Wenn seine Frau etwas anders sieht als er, ist ihm dies ein Beweis dafür, dass sie nicht ausreichend denkt und noch nicht kapiert hat, wie es richtig ist. Auf diese Weise wird er hinter seinem Rücken, und trotz seines manifesten Widerstands, zu einer partiellen Kopie seines Vaters: Er wird selbst zum unerbittlichen und willkürlich regierenden Ehemann. Es passiert, was eine meiner Lehrtherapeutinnen so ausgedrückt hat: „Manchmal geht man in die Ablehnung von Elternmodellen, und das geht leider oft in die Rigidität, und in die Hose.“
Wer zu schwarzgezeichnet und fatalistisch findet, dem sei gesagt: Natürlich greift das Gesetz des Geprägtwerdens durch die Eltern auch bei positiven Dingen – bei Qualitäten, Fähigkeiten oder Lebenshaltungen (Humor, Gelassenheit, Lebendigkeit, Chaostoleranz …), die uns oft gar nicht besonders auffallen oder die wir für angeborene Charaktereigenschaften halten, die uns aber tatsächlich geschenkt wurden durch das Vorbild der Eltern. Und natürlich ist hier keine mechanisch-deterministische Kausalität am Werk, vielmehr fügt jede Generation und jeder Mensch dem Mix an Beziehungsmustern auch etwas Neues hinzu. Es ist nicht wie ein physikalischer Ablauf, sondern eher wie ein Schachspiel, das sich immer wieder in milliardenfach neuen Varianten entfalten kann. Aber es sind starke Kräfte, die da wirken, durch die Felder, die schon besetzt sind, oder auch die Felder, die – in einem magischen, mehrdimensionalen Schachspiel – unerreichbar sind, auf unserem Spielfeld nicht auftauchen, obwohl sie für andere Menschen möglich sind.