Sinnesschärfung, oder: Was wir von unseren Eltern erben (II)

Virtuell, Realität, Psyche, Maske, Drahtgestell

Hier eine Geschichte, die ich als Jugendliche für eine Geschichte über Naturvölker vs. zivilisationsverdorbene Städter gehalten habe. Ein Indianer und ein Weißer gehen zusammen durch die Stadt. Der Indianer sagt: Hörst du die Grille, die da drüben zirpt? Der Weiße wundert sich, dass der Indianer ein so leises Geräusch aus all den Stadtgeräuschen heraushören kann. Da nimmt der Indianer eine Münze aus der Tasche und lässt sie auf den Boden fallen, woraufhin etliche Passanten sich umdrehen und mit den Augen die heruntergefallene Münze suchen. Der Indianer sagt: „Das Geräusch der Münze war nicht lauter als das Zirpen der Grille. Jeder hört das, was zu hören er gelernt hat.“

Man kann das als Geschichte über naturverbundene Indianer vs. naturferne Europäer lesen. Es ist aber auch viel allgemeiner eine Geschichte darüber, dass wir in unserer Wahrnehmung geschult werden durch die Art, wie wir aufwachsen, und dass wir dann gewissermaßen in einer anderen Welt leben als ein Anderer, der auf anderen Kanälen zu hören, zu sehen, zu fühlen gelernt hat. Das gilt nicht nur für Sinneswahrnehmungen, sondern auch für die Wahrnehmung der Probleme, Chancen und Risiken von zwischenmenschlichen Beziehungen. Wir alle sind durch die Art, wie wir aufgewachsen sind, geschult und sensibilisiert für bestimmte Beziehungsmuster, nämlich für die, die in unserer Herkunftsfamilie relevant waren. Sie haben in uns eine Sensibilisierung und gewissermaßen besonders geschärfte Sinne hinterlassen. Wenn wir im späteren Leben auf solche Muster, oder auch nur leise Anklänge solcher Muster, stoßen, reagieren wir verstärkt. Wir „hören“ sie lauter oder „sehen“ sie vergrößert, auch wo anderen Menschen noch gar nichts Besonderes auffallen würde.

Nehmen wir zum Beispiel an, ein Kind wächst in einer Familie auf, in der gern indirekte Botschaften verschickt werden, also Dinge nicht direkt gesagt, sondern unausgesprochen durch Blicke oder Tonfall vermittelt werden. Das können etwa „Hilf mir doch“-Botschaften sein, oder „Sieh doch wie toll ich bin“-Botschaften, oder „Hab mich lieb“-Botschaften, oder vieles anderes mehr. Wer als Kind viel mit solchen indirekten Botschaften konfrontiert worden ist, wird später als Erwachsener besonders hellhörig für Botschaften dieses Typs sein. Vielleicht wird er sie besonders eilfertig bedienen und wird immer sofort heraushören, was andere wollen oder brauchen könnten, noch bevor sie es selbst wissen, und jedenfalls bevor sie es gesagt haben. Es kann aber auch umgekehrt sein, dass er auf solche Botschaften mit besonderer Ablehnung und Abneigung reagiert, mit der intuitiven Weigerung, sie zu bedienen. Er hat unter dem Erwartungsdruck dieser Botschaften die Haltung entwickelt: „Sag mir direkt, was du willst, oder du kriegst es nicht.“

Oder nehmen wir an, ein Kind wächst in einer Familie mit einer hohen Regeldichte auf, wo sein Verhalten genau kontrolliert wird und auch die Eltern selbst stets kontrolliert und beherrscht auftreten, sich niemals „gehen lassen“. Ein solches Kind wird sensibilisiert für die Dimension des Müssens, Dürfens und Nicht-Dürfens. Vielleicht wird aus ihm später ein Mensch, der alle Normen akkurat einhält, Hemden auf Kante faltet und ein perfekter Konformist ist. Oder aus ihm wird umgekehrt ein Mensch, der überall die Freiheit sucht, Zwänge und Konventionen ablehnt und die Befreiung aus bürgerlichen Lebensformen ersehnt. Er spürt oder „hört“ Zwänge deutlicher als andere Menschen, die in derselben Situation vielleicht noch gar keinen Konformitätsdruck und keine Last von sozialen Zwängen spüren würden.

Oder nehmen wir an, ein Kind wächst in einer Familie auf, wo man oft mit Kommunikation überrannt wird und Grenzen nicht geachtet werden – wo man jederzeit durch andere Familienmitglieder mit Worten, Wünschen, Angeboten, Bedürfnissen bedrängt werden kann und feine Signale des „Ich bin beschäftigt“ oder „Ich brauche meine Ruhe“ nicht wahrgenommen werden. Das Kind wird dann sensibilisiert für übergroße Nähe, oder allgemein für Nähe und Distanz. Es kann sein, dass es sich später leicht bedrängt fühlt, einen „Bleib mir vom Leib“-Reflex entwickelt und gern einen Sicherheitsstreifen zwischen sich und andere Menschen legt. Oder es kann umgekehrt sein, dass es auf Grenzziehungen anderer besonders empfindlich reagiert und sich leicht zurückgestoßen fühlt, schon durch leise Abgrenzungssignale irritiert ist.

Nehmen wir schließlich ein Kind, das in einer Familie mit einem dunklen Familiengeheimnis aufwächst – sagen wir: einem gewalttätigen Vater oder einer alkoholabhängigen Mutter –, wobei von dem Geheimnis nichts nach außen dringen darf, die Fassade der heilen Familie gewahrt bleiben muss. Das Kind lernt: Es muss den Mund halten. Es kann daraus eine Sensibilisierung für die Dimension Offenheit vs. Verschweigen in sein späteres Leben mitnehmen. Vielleicht wird der Mensch später im Beruf oder im Freundeskreis allergisch auf den Stil des „Hintenrum-Redens“ reagieren und sich durch besondere Offenheit und Klartextreden auszeichnen. Vielleicht wird er in Paarbeziehungen keine Toleranz dafür haben, dass der Partner „Privatangelegenheiten“ hat, die er für sich behält, und wird das als eine Art des Hintergehens erleben. Oder aber er legt umgekehrt Wert darauf, dass der Partner kein Recht hat, alles über ihn zu erfahren, dass er ihm seine kleine Privatwelt lässt und ihm nicht „hinterherspioniert“. Geheimnisse sind in seinem Erleben keine hinzunehmenden Nebensächlichkeiten, sondern psychosoziale Zeitbomben.

Jeder von uns ist also mit seinem Wahrnehmungsapparat eingestellt auf bestimmte Frequenzen des sozialen Lebens. Bestimmte Signale werden verstärkt empfangen, während andere unbemerkt durch uns hindurchrauschen. Deshalb leben wir nicht in „derselben“ Welt wie die Menschen neben uns, die von „derselben“ Situation andere Töne und andere Aspekte mitbekommen. Die Welt ist nicht dieselbe für acht Milliarden Menschen. Sie ist noch nicht einmal dieselbe für die drei oder vier oder fünf Menschen, die in einer Familie zusammenleben. Dass wir trotzdem zusammenleben können, ist erfreulich, und dass es dabei gelegentlich rumpelt, ist nicht erstaunlich.

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