
Heute der Abwechslung halber mal was zum menschlichen Denken, genauer zu Kreativität. Was ist Kreativität und wie kommt sie zustande? Nach einer alten kognitionspsychologischen These beruht Kreativität auf der Fähigkeit, möglichst viele Dinge unter möglichst vielfältigen Gesichtspunkten interessant zu finden, anders gesagt: sich selbst beim Interessantfinden von Dingen nicht zu zensieren. Das ist überraschend ähnlich mit der Einsicht, dass psychische Gesundheit darauf beruht, sich selbst beim Fühlen, Wollen, Wünschen von Dingen nicht zu zensieren, hat aber ansonsten nichts damit zu tun.
Die These muss erklärt werden. Zugrunde liegt ein evolutionstheoretisches Modell des menschlichen Denkens. Evolution heißt grundsätzlich, dass Entwicklung in einem Dreischritt von Variation – Selektion – Restabilisierung geschieht. Dieser Grundgedanke kann auf viele verschiedene Ebenen angewandt werden: nicht nur auf die biologische Ebene (Organismen), sondern auch auf die soziale Ebene (Gesellschaft) und eben auch auf die psychische Ebene (Denken, Bewusstsein). Schauen wir die drei Schritte nacheinander an.
(1) Auf der Stufe der Variation tauchen neue, abweichende Elemente auf, als minimale Abweichungen vom Bekannten. In der biologischen Evolution ist das das Auftauchen von genetischen Mutationen und neuen Rekombinationen im Erbgut eines Organismus. Variationen treten wild, ungeordnet und zufällig auf, ohne Erfolgsorientierung und ohne Vorabbeurteilung danach, ob sie gut, brauchbar, sinnvoll, lebensfähig sind. Sie entstehen irgendwie und nach Zufallsprinzip. Im menschlichen Denken geht es auf dieser Stufe um minimal kurze Flashes, Gedankensplitter, Bilder, Abschweifungen, die irgendwo an den Rändern des Bewusstseins in uns auftauchen, aber noch nicht die Form eines fertigen Gedankens haben, der ausgesprochen oder aufgeschrieben werden könnte. Es geht eher um ein Aufblitzen von etwas weit hinten, in den Tiefen oder Untiefen unseres spontan vor sich hinblubbernden psychischen Systems. Dies geschieht dutzend- oder hundertfach täglich, in den meisten Fällen von uns unbemerkt bzw. sofort wieder verschwindend und versickernd.
(2) Auf der Stufe der Selektion werden manche, wenige dieser Variationen für weitere Behandlung oder Aufmerksamkeit ausgewählt. Die meisten werden sofort wieder ausgemerzt und verschwinden auf Nimmerwiedersehen. In der biologischen Evolution verabschieden sich die meisten genetischen Variationen wegen fehlender Lebensfähigkeit nach kurzer Zeit wieder, und in der Mikro-Evolution menschlicher Gedanken werden die meisten dieser kurz aufblitzenden Gedankensplitter nicht weiterverfolgt und können gar nie richtig kristallisieren. Sie bleiben Rauschen, treten nicht voll ins Bewusstsein, da sie uns unwichtig, irrsinnig, irrelevant, phantastisch erscheinen und wir sie nicht für wert befinden, ihnen unsere bewusste Aufmerksamkeit zu schenken. Nur einige wenige schaffen es, diese Schwelle zu durchbrechen und für, sagen wir, einige Minuten im Zentrum unserer bewussten Aufmerksamkeit zu stehen.
(3) Auf der Stufe der Restabilisierung werden einige dieser bewusst gedachten Ideen für gut befunden und tatsächlich weiterverfolgt. Das ist ein weiterer Auswahl- und Ausmerzungsschritt, wo wieder der Großteil der auf der letzten Stufe ausgewählten Elemente hängenbleibt. Was auf der Stufe der Selektion passiert, ist nur, dass die Ideen überhaupt ernsthaft betrachtet und in Erwägung gezogen werden, dass sie gewissermaßen eine Chance bekommen. Auf der Stufe der Restabilisierung entscheidet sich, welche davon diese bewusste Auswahl überstehen, also nicht als zu gewagt, unbrauchbar, undurchdacht verworfen werden, sondern irgendwie weiterverwendet werden: Man schreibt einen Text oder eine Skizze, diskutiert eine Idee mit Kollegen und legt sie dem Chef vor, oder man fängt an, an einer Lösung für irgendein technisches Problem zu basteln.
Erst hier, auf der dritten Stufe der Evolution von Gedanken im Bewusstsein, werden Neuerungen in die Kommunikation gebracht, verlassen den Kopf des Einzelmenschen und treten in die Sphäre der Kommunikation oder der sozialen Systeme ein. Dort beginnen dann wieder gleichartige Prozesse, evolutionäre Prozesse auf höherer Stufe: (1) Von den Ideen, die in irgendeinem sozialen System – einer Organisation, einer Profession, einer Wissenschaft – von irgendjemandem vorgeschlagen werden, versickern die meisten schnell wieder, resonanzlos und ergebnislos (= Variation). Die meisten Eingaben von Mitarbeitern bleiben ungelesen, die meisten wissenschaftlichen Texte finden keine Leser, und die meisten technischen Lösungen, die irgendwer vorschlägt, werden wieder verworfen. (2) Nur wenige werden im sozialen System positiv seligiert, machen eine gewisse, beginnende Karriere als mögliche Alternative durch, werden überhaupt beachtet und schaffen es über ihren Entstehungskontext hinaus (= Selektion). (3) Und von denen wiederum setzen sich nur wenige dauerhaft und in größerem Rahmen durch, werden wirklich erfolgreich und verdrängen ggf. bisher dominierenden Lösungen (= Restabilisierung).
Und jetzt zurück zu unserer Frage: Wie kommt Kreativität zustande, also die Fähigkeit, neue Ideen zu generieren? Nach diesem Modell ist die wichtigste Voraussetzung für Kreativität die Fähigkeit, möglichst viele und möglichst vielfältige Selektionskriterien zu haben. Wer auf der Stufe der Selektion breit ansprechbar ist, viele der auf der ersten Stufe generierten Roh-Ideen interessant finden und auf die Stufe der bewussten Beachtung heben kann, der hat auch bessere Chancen, am Schluss des Prozesses einigermaßen vorgeprüfte Ideen auszuwerfen. Praktisch gesehen geht es also um die Fähigkeit, an möglichst vielen Punkten innezuhalten, zu denken „Stopp, das könnte ja ein interessanter Gedanke sein“, und diesem Gedankenrohling so weit nachzugehen, dass er überhaupt erst mal erste Form und Formulierung gewinnt. Und das muss man tun, ohne vorher zu wissen, ob er wirklich „gut“, haltbar, vertretbar, verkaufbar sein wird. Denn das kann man in diesem Stadium noch nicht wissen; Variation operiert blind. Man muss ihm einfach erst mal nachgehen, nur weil man in „irgendwie interessant“ findet.
Letztlich geht es also um die Fähigkeit, Dinge „irgendwie interessant“ zu finden – ohne zu wissen, warum, und ohne die Erfolgswahrscheinlichkeit abschätzen zu können. Je besser definiert, je vorhersehbarer und „rationaler“ die eigenen Selektionskriterien sind, desto mehr wird man schon man auf der ersten Stufe der Variation verwerfen und gar nicht in den bewussten Auswahlprozess einspeisen. Je bunter, wilder, undefinierter, pluralistischer dagegen die Kriterien sind, nach denen ich etwas interessant finden kann, desto mehr erhält die Evolution die Chance, auf vollen Touren zu operieren und das spontan vor sich hinblubbernde Variationspotential so richtig auszuschöpfen.
Das ist nicht inkompatibel mit, aber präziser als der heute oft propagierte Grundsatz, dass Kreativität Entspannung und Freiheit von Druck voraussetzt. Das evolutionstheoretische Modell gibt eine genauere „Anleitung“ dazu (wenn es denn für einen so zufallsabhängigen Prozess eine Anleitung geben kann), wie man die Voraussetzungen für kreatives Denken verbessern kann. Es geht nicht nur um ein einfaches Kommenlassen-von-Ideen, sondern um ein Auffangen von Dingen in möglichst breit ausgelegten Netzen von Relevanz und potentieller Interessantheit.
Dieser Blogbeitrag beispielsweise geht darauf zurück, dass ich zufällig irgendwo ein Posting zu Creative Writing gelesen habe, das in mir durch irgendein Triggerwort die Erinnerung an lange vergangene Lektüren zu Evolutionstheorie wachgerufen hat (1); dass ich den zunächst aufkommenden Gedanken, darauf eine Antwort zu schreiben, nicht sofort verworfen habe, trotz Unsinnigkeit, sondern solange in meinem Bewusstsein gehalten habe, bis ich ihn in die Idee recyclet hatte, daraus einen Blogbeitrag zu machen (2); und dass ich den Textversuch dann für hinreichend gut befunden habe, um in die Sphäre des Netzes hinausgepustet zu werden (3). Wenn Sie also diesen Text interessant (! nach welche Kriterien?) fanden, profitieren Sie von einem wenig zensierten Prozess in meinem zufällig an diesem Tag wenig zensierten Bewusstsein. Dass ein evolutionärer solcher Prozess funktionieren kann, ist erstaunlich, aber seit vielen Millionen Jahren erwiesen.