Ganz normale Beziehungen

In den letzten Jahrzehnten sind wir Zeugen einer fast atemberaubend schnellen Normalisierung gleichgeschlechtlicher Beziehungen geworden. Inzwischen sind nicht nur rechtlicherseits Ehen zwischen gleichgeschlechtlichen Menschen in vielen Staaten möglich, auch die alltägliche Diskriminierung und das tägliche Naserümpfen hat deutlich abgenommen, jedenfalls in urbanen Lebensräumen. Die Schreck- und Denksekunde, die folgt, wenn ein weiblicher Mensch sagt „Ich bin mit meiner Frau hier“, oder ein männlicher Mensch „Ich wohne mit meinem Mann zusammen“, wird fühlbar kürzer.

Das ist nicht nur gut so, sondern es ist auch gesellschaftlich zwingend – wie der Soziologe jedenfalls hinterher sieht. Den Trend, in den sich diese Entwicklung einreiht, kann man unter den Titel stellen: „Wachsende Freiheitsgrade der sozialen Ordnung gegenüber ihren biologischen Grundlagen“.

Was heißt das? Im menschlichen Leben wirken verschiedene Systemebenen zusammen: die physikalische und chemische Ebene der äußeren Umwelt (Pflanzen, Nährstoffe, Gifte usw.), die biologische Ebene des Körpers, die psychische Ebene des Denkens und Fühlens, und die soziale Ebene der Kommunikation. Alle diese Ebenen sind irgendwie miteinander verbunden und stehen in Wechselwirkung miteinander, aber sie sind in gewissem Grad auch voneinander unabhängig. Wenn sie das nicht wären, würde jedes Schwermetallpartikel im Salat und jedes Stickoxid in der Luft sofortige Gedankensprünge, Gefühlswellen, Panikattacken auslösen, und es wäre kein geordnetes Leben möglich.

Wieviel Unabhängigkeit eine gegebene Systemebene erreichen kann, ist aber verschieden, je nach Komplexität und Entwicklungsgrad des Systems. Beispielsweise sind Menschen als Organismen unabhängiger von ihrer natürlichen, biologisch-physikalischen Umwelt als Schnecken. Menschen können sowohl in den Tropen als auch in arktischen Gebieten leben, sowohl in feuchten als auch in trockenen Gebieten, und können die Unterschiede in den natürlichen Bedingungen durch Intelligenz, Anpassung, Werkzeug, Technik usw. ausgleichen – also durch höhere Komplexität, höhere Entwicklung.

Wir interessieren uns hier aber nicht für Organismen, sondern für die Gesellschaft. Auch die Gesellschaft kann umso unabhängiger von ihrer natürlichen, biologisch-physikalischen Umwelt werden, je höher entwickelt sie ist. Archaische Jäger- und Sammlergesellschaften oder Ackerbaugesellschaften etwa leben ganz eng eingebettet in die jeweiligen natürlichen Gegebenheiten: Klima und Wetter, den Zyklus der Tage und Jahreszeiten. Das ganze soziale Leben folgt dem Rhythmus von Pflanz- und Erntezeiten oder dem Wechsel der Jagdsaisonen und dem Weiterziehen von Tierherden. Feste und Feiern, Rituale und selbst Kriegführung lassen sich davon den Takt vorgeben. So führt man etwa keinen Krieg zur Erntezeit, weil die Krieger identisch mit den Ackerbauern sind und weil, wenn niemand die Ernte einbringt, man im nächsten Jahr hungern muss.

Im Gegensatz dazu ist die moderne Gesellschaft sehr viel unabhängiger von natürlichen Zeitrhythmen. Der Wechsel der Jahreszeiten spielt eigentlich nur noch in der Landwirtschaft und im Tourismus eine Rolle, oder in Kindergärten, wo im Herbst Blätter gesammelt und im Frühling Osternester gebastelt werden. Alle anderen gesellschaftlichen Bereiche sind vom Rhythmus der Jahreszeiten entkoppelt und haben ihre eigenen Zeitrhythmen entwickelt: Parlamente haben Legislaturperioden, Unternehmen haben Quartalsberichte, Universitäten haben Semester, Sportverbände haben Ligen- und Wettkampfzyklen, usw. usf. Der Wechsel von Sommer zu Winter ist zu einer Art Lokalkolorit oder zu einem subjektiv-individuellem Wohlfühlfaktor degradiert worden.

Dasselbe Gesetz einer größer werdenden Distanz zu natürlichen Gegebenheiten gilt nun auch für die soziale Form der Liebe/Paarbeziehung und ihre Kopplung an das biologische Geschlecht von Menschen. In frühen Gesellschaften ist die Ehe schlechterdings untrennbar vom biologischen Tatbestand der Fortpflanzung. Es geht um Abstammungslinien und Clanzugehörigkeiten, eine Ehe ohne Fortpflanzung  ist nicht vorstellbar oder jedenfalls nicht sinnvoll. Deshalb können Ehen nur zwischen Mann und Frau geschlossen werden, weil anders keine Fortpflanzung möglich ist. Und noch im christlichen Mittelalter kann eine Ehe aufgelöst werden, wenn sie keine Kinder hervorbringt.

Heute dagegen werden die Freiheitsgrade der Sozialform Ehe/Paarbeziehung größer, die Verschaltung der sozialen mit der natürlich-biologischen Ordnung wird gelockert. Wir schätzen die Partnerschaft als Zweck in sich selbst. Ihr Wert ist unabhängig von der biologischen Ebene der Fortpflanzung, vielmehr geht es zunächst um den rein sozialen Sinn der Sache: das intensive und intime Aufeinander-Bezogensein, den Austausch auf alltäglichen wie außeralltäglichen Ebenen, das unendliche Entdecken der Tiefen und Untiefen in der Seele des Anderen, das wir „Liebe“ nennen. Dieses Projekt ist in sich schwierig und unwahrscheinlich genug – zwei Menschen in dieser Tiefe und mit diesen Ansprüchen aufeinander loszulassen und zu hoffen, dass sie sich nach zehn Jahren immer noch am Frühstückstisch sitzen sehen können, ohne sich zu hassen. Wenn das gelingt, und sei es auch zwischen zwei gleichgeschlechtlichen Menschen, ist das eine anerkennenswerte soziale Leistung, die wir eben deshalb schätzen und schützen.

Kinder, Fortpflanzungsinteressen, können in dieser Form sozialer Verbindung dazukommen, müssen aber nicht. Wenn zwei Partner miteinander keine Kinder haben wollen oder können, oder wenn sie aufgrund gleicher Geschlechtszugehörigkeit von vornherein gar nicht dafür in Frage kommen, macht das auch nichts. Der soziale Wert einer Beziehung ist uns nicht mehr abhängig von seiner biologischen Sinnhaftigkeit und Fruchtbarkeit.

Das ist der tiefere, gesellschaftliche Grund dafür, warum gleichgeschlechtliche Beziehungen gerade im Zeitraffertempo normalisiert werden. Es ist denn auch auffällig, dass gleichgeschlechtliche Beziehungen, sobald sie aus dem Druck des Sich-Versteckens und der Szeneexistenz entlassen sind, sich in praktisch allen Beziehungsdynamiken bis zur Ununterscheidbarkeit an die üblichen gegengeschlechtlichen Beziehungen angleichen. Das gilt für Muster des romantischen Sich-Verliebens, für den Übergang zum Beziehungsalltag und zu Fragen von Krise und Trennung, und sogar auch in puncto Kinderwunsch und Familiengründung, abgesehen eben von deren biologischer Komponente.

Und das muss uns nicht wundern, denn schließlich rückt die moderne Gesellschaft auch sonst die körperliche Ausstattung des Menschen zunehmend an den Rand des Bedeutsamen: Auch schwächliche Personen, die niemals eine Prügelei gewinnen würden, können politische Spitzenfiguren sein; auch ungediente Personen und Frauen können Verteidigungsminister sein; auch Kurzsichtige und Diabetiker können ein langes Leben und viele Nachkommen haben. Und ebenso können eben auch zwei Menschen gleichen Geschlechts miteinander eine ganz normale Beziehung haben.

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