Was treibt uns zur Liebe?

Romantische Liebe, wie wir sie kennen – mit starken Gefühlen, Hormonen, Ekstasen – ist ein Produkt der modernen Gesellschaft und nicht ein natürliches Merkmal des Menschseins. Das wurde in den ersten drei Beiträgen dieser Rubrik gezeigt („Liebe als Erfindung der modernen Gesellschaft“). Wenn und soweit man das glaubt, ergibt sich daraus die weitere Frage: Warum erfindet gerade die moderne Gesellschaft die romantische Liebe? Warum nicht irgendeine andere Gesellschaft?

Die Soziologie hat darauf zwei Antworten, und deshalb ist das Thema eine gute Gelegenheit, in einen kleinen Grundkurs in Soziologie einzusteigen. (In fünf Minuten! Die Gelegenheit kommt nie wieder.) Die Antworten laufen beide auf Autonomie hinaus, auf deutsch: Freiheit und Selbstbestimmung. Die Frage ist nur: Wessen Selbstbestimmung?

Antwort 1: Individualisierung

Uns kommt es selbstverständlich vor, dass wir alle Individuen sind, unser Leben selbst in die Hand nehmen und ständig mit der Optimierung unserer Profile, Karrieren, Biographien beschäftigt sind. Es ist aber nicht selbstverständlich. Früher – und das heißt: zehntausende Jahre von Menschheitsgeschichte hindurch – lebten die Menschen viel weniger als Individuum und viel mehr als Teil einer Gruppe: einer Familie, eines Clans, eines Dorfes, einer Standesgruppe. Sie lebten so, wie ihre Väter und Vorväter, Mütter und Vormütter gelebt hatten; sie waren Bauern, wenn die  Eltern Bauern waren, Schmied, wenn der Vater Schmied war (soweit männlich), Adlige, wenn die Eltern Adlige waren, usw. Es gab wenig zu entscheiden und wenig am eigenen Lebensglück zu drehen.

Dagegen sind die Menschen des 21. Jahrhunderts alle zum „Planungsbüro ihres eigenen Lebens“ geworden (Ulrich Beck). Wir müssen uns permanent entscheiden: wo wir wohnen, was wir studieren, was wir arbeiten, wen wir wählen, wen wir lieben und wie lange, ob wir homo oder hetero leben, ob wir Kinder haben, wieviele, auf welche Schulen die Kinder gehen, wohin wir in Urlaub fahren und wie wir da hinkommen, mit dem Auto oder mit dem Flieger und mit oder ohne CO2-Ausgleich. Wir feiern uns unentwegt selbst: Individuelle Feiertage wie Geburtstage und Hochzeiten werden mit immer größerem Pomp begangen, während kollektive Feiertage wie Nationalfeiertage oder 1. Mai in Vergessenheit gerade und nur noch wie eine Art seltsame Folklore anmuten. Wir fotografieren uns unentwegt selbst: Auf unseren Handys stapeln sich Fotos mit Motiven wie „Ich am Meer“, „Ich im Café“, „Ich und meine Freundin“, „Ich und der Eiffelturm“, während andere fotogene Motive (Straßenszenen, skurrile Details, Licht & Schatten …) ein Schattendasein fristen. Wir sind durch all diese Selbstbesessenheit phasenweise glücklich und jedenfalls erlebnisreich unterwegs, allerdings oft auch überfordert. Es ist nicht sicher, ob der Mensch dafür gemacht ist, für sein Lebensglück selbst verantwortlich zu sein.

Jedenfalls wird mit diesem allgemeinen Individualisierungsschub auch der Bereich der Liebe, Partnerschaft, Familiengründung individualisiert. Wir würden uns nicht mehr von unseren Eltern vorschreiben lassen, wen wir zu heiraten haben. Wir wählen selbst. Dann brauchen wir aber ein Ersatzprinzip, um die Entscheidung zu tragen. Immerhin ist das eine Entscheidung von großer Reichweite: auf wen wir uns einlassen, mit wem wir wenigstens ein Stück des Lebens gemeinsam leben wollen. An dieser Stelle nun kommen die starken Gefühle der Liebe und Verliebtseins zum Tragen, die Unmittelbarkeit des Gefühls „Das ist der Mensch! Mit dem will ich leben!“

Wir brauchen diese Gefühle, und die Gesellschaft braucht diese Gefühle, als Ordnungsprinzip, um Paarbildungen und Familiengründungen zu tragen, wenn die alten Kriterien wie Geld, Mitgift, Status, Nachbarschaft usw. nicht mehr ziehen. Eine Ehe oder Partnerschaft ist heute nicht mehr etwas, was zwei Familien, zwei Höfe miteinander verbindet (Bauernhöfe oder Königshöfe), sondern einzig und allein eine Sache, die zwei Individuen miteinander verbindet. Deshalb kann und muss sie auf Gefühle gestellt werden, intensive zwischenmenschliche Gefühle, die die beiden Beteiligten wenigstens so lange aneinander binden, bis andere Bindungskräfte – Kinder, Häuser, Bausparverträge – einen Teil der Bindungslast übernehmen.

Antwort 1 ist also: Romantische Liebe ist ein Produkt der Individualisierung des modernen Menschen.

Antwort 2: Gesellschaftliche Differenzierung  

Nicht nur wir als Individuen werden auf uns gestellt. In der Moderne werden auch große gesellschaftliche Teilbereiche zunehmend gezwungen und damit auch dafür freigestellt, ihre eigene Entwicklung zu nehmen, ihre eigene Logik und Weltsicht zu perfektionieren, ihren Eigensinn zu kultivieren. Das gilt für Bereiche wie Politik, Recht, Wirtschaft, Wissenschaft, Bildung, Religion, Massenmedien u.a. (insgesamt zehn bis zwölf an der Zahl). Was früher als politische, rechtliche, massenmediale, wissenschaftliche usw. Speziallogik entweder gar nicht existierte oder nur in zarten Anfängen und eingeschmolzen in eine große, religiös überwölbte Gesamtordnung, kämpft sich frei und beginnt, sich eine eigene Welt aufzubauen, die nur ihren eigenen Gesetzen folgt und von außen schwer zu kontrollieren ist.

Die Massenmedien beispielsweise folgen allem, was Aufmerksamkeit und Klicks verspricht, sie produzieren ihren täglichen Informationsschwall, ohne sich von irgendjemandem dreinreden oder einen Maulkorb verpassen zu lassen, und ohne sich dafür zu interessieren, dass aus Sicht des Bildungs- und Wissenschaftssystem vieles von dem Müll ist, was sie in die Welt hinauspusten. Die Wissenschaft ihrerseits entdeckt immer neue Fragen und (nicht ganz so viele) Antworten, die sie begierig erforscht, und sie lässt sich nicht davon abschrecken, dass das meiste davon kein Mensch braucht, dass es unendlich teuer ist und dass es möglicherweise Religion und Moral untergräbt. Die Wirtschaft wiederum wirft täglich neue Angebote, Produkte, Dienste, Updates auf den Markt und wirft auf der anderen Seite – der Seite der Aktionäre und Investoren –schwindelerregende Profite ab, ohne sich davon aufhalten zu lassen, dass das den Planeten kaputtmacht, die Ungleichheit verschärft, politische Konflikte anheizt und möglicherweise unter dem Strich dem Wohlbefinden des Menschen gar nicht zuträglich ist. (Usw. – das könnten wir jetzt für alle 10-12 Bereiche machen, wenn wir Zeit hätten.)

Also auch gesellschaftliche Makrobereiche finden sich in einer Situation der Autonomisierung, Freisetzung, Ablösung von althergebrachten Ordnungen wieder. Und so  eben auch der Bereich Liebe/ Partnerschaft/ Familie. Auch dies war früher, die meiste Zeit der Menschheitsgeschichte hindurch, kein eigenständiger Bereich. Vielmehr waren Ehe und Familie dicht eingebunden in ein wirtschaftlich-politisch-religiös gefärbtes Ganzes: In der Familie wurde gearbeitet und gelernt und gebetet, die Familie war gleichzeitig auch Produktionsstätte (als Bauernhof oder Handwerksbetrieb), sie war Ausbildungsort für die Kinder, sie war ggf. auch Schauplatz von Politik (im Adel). Sie war kein spezialisierter Ort fürs „Familienleben“. Privatsphäre und öffentliche Sphäre waren noch nicht voneinander getrennt.

Heute sind sie das, und das heißt: Paar- und Familiensysteme müssen lernen, auf eigenen Beinen zu stehen und ihre eigene Welt zu erschaffen. Sie sind jetzt nur noch, oder in allererster Linie, ein intimer oder emotionaler Ort – ein Ort für das enge zwischenmenschliche Miteinander von Menschen mit all ihren Stärken und Schwächen, Macken und Krämpfen, Wünschen und Bedürfnissen. Arbeit, Schule, Politik und Religion sind ausgelagert, sie finden anderswo statt und ragen nur noch mit gelegentlichen Ausläufern in die Familie hinein. Die Familie dreht sich zunehmend um sich selbst, sie wird als moderne Kleinfamilie immer enger geflochten, bindet ihre Mitglieder immer enger aneinander und verlangt ihnen immer größere Intimitäts- und Emotionalitätsleistungen ab.

Und romantische Liebe ist dann eben die Eigenlogik, nach der dieses System funktioniert, jedenfalls in der Anfangsphase. (Eltern-Kind-Liebe und andere Arten von Partnerliebe sind Varianten, die später dazukommen können.)

Und damit sind wir zurück bei der ersten Antwort. Oben haben wir gesagt: Wir brauchen die Liebe, weil wir als individualisierte Individuen sonst nicht wüssten, worauf wir unsere Partnerwahlentscheidung stützen sollten – wenn es uns nicht mehr unsere Eltern sagen, muss es uns unser Bauch sagen, oder die Schmetterlinge in unserem Bauch. Man kann aber auch sagen: Wir brauchen die Liebe, weil die von anderen gesellschaftlichen Relevanzen entkoppelten Paarsysteme die dadurch geschaffene Leere und Unterbestimmtheit mit irgendetwas füllen müssen – wenn es nicht mehr um Betriebsübernahmen, Mitgift und „gute Partien“ geht, muss es eben um zwischenmenschliche Schwingungen gehen.

Antwort 2 ist also: Romantische Liebe ist ein Produkt der zunehmenden gesellschaftlichen Differenzierung.

Damit ist der Grundkurs zu Ende, und ich beglückwünsche alle, die bis hierher durchgehalten haben.

Ein Kommentar zu “Was treibt uns zur Liebe?

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