
Wenn wir uns verlieben, schweben wir auf Wolke sieben und sind für irdische Dinge nicht ansprechbar. Paartherapeuten haben aber ein Modell, um das Geschehen in dieser Phase und den Phasen danach in der nüchternen Sprache der Juristen beschreiben, nämlich in der Sprache der Verträge und Vertragsbrüche.
Wenn wir uns verlieben, schließen wir miteinander einen Vertrag, wenn auch einen unbewussten und unausgesprochenen Vertrag. Er beginnt mit: „Du bist der Mensch, der …“ und endet mit einer Erwartung auf das, was der Partner einem vermuteterweise geben wird: Spiegelung, Resonanz, Führung, Halt, Freiraum, was immer es im Einzelfall ist. Letztlich erhoffen wir vom Partner das, was an kindlichen Wünschen und Sehnsüchten in unserer Seele übrig geblieben ist (s. Eintrag „Warum wir uns verlieben“). Wenn wir einen Vertragspartner finden, der die passende Beziehungsform für uns im Angebot hat, sind wir zutiefst beglückt und sind bereit abzuheben in die Phase des Schwebens und Ineinander-Aufgehens.
Das Problem an solchen Verträgen ist, dass der Partner nichts davon weiß – abgesehen davon, dass man normalerweise selbst nichts davon weiß. Es ist insofern gar kein Vertrag, würden Juristen sagen; der Partner hat ihn weder zur Kenntnis genommen noch zugestimmt. Es ist ein einseitiger „Vertrag“, aber er ist vertragsartig darin, dass ich meine Erwartungen an die Partnerschaft und meine Definition dessen, worauf ich einen Anspruch zu haben meine, daraus beziehe. Der Partner schließt umgekehrt seinen eigenen „Vertrag“ mit mir, von dem ich wiederum nichts weiß.
Was als nächstes passiert, nach einer mehr oder weniger langen Verliebtheitsphase, ist, dass der Partner die in ihn gesetzten Erwartungen enttäuscht. Das ist eine sichere Prognose, es ist in jedem Fall so und kann nicht anders sein. Wir stellen fest: Der Partner ist gar nicht so, wie wir uns das gedacht haben. Er ist gar nicht so einfühlsam, liebevoll, phantasievoll, tolerant usw., wie wir ihn am Anfang gesehen haben. Wir fühlen uns dann betrogen, sehen den Vertrag gebrochen und fühlen Ärger, Enttäuschung, Frust über den Partner, der uns in diese Falle hat laufen lassen.
Dass der Partner den Vertrag bricht, hat indes nichts mit dem Partner zu tun, sondern mit dem Projektionsgehalt des Vertrags. Wenn ich vom Partner die Erfüllung meiner tiefsten, kindlichen Sehnsüchte erwarte, kann kein realer Mensch dem je gerecht werden, egal wie empathisch, rücksichtsvoll, stark, unterstützend usw. er ist. Ein realer Mensch hat immer auch Seiten, die meinen Erwartungen zuwiderlaufen, die mich vor den Kopf stoßen und im Regen stehen lassen mit meinen Bedürfnissen. Wenn es anders wäre, wären wir im Märchen.
Die Phase der Vertragsbrüchigkeit mündet in die Phase der Umerziehung (wenn man sich nicht vorher schon trennt). Hier versucht man, den Partner den Erwartungen gemäß zu machen. Das gelingt nie; das ist eine weitere sichere Prognose. Denn erstens lassen sich erwachsene Menschen nicht gern umerziehen. Und zweitens könnte man, selbst wenn der Partner dazu bereit wäre, keinen Menschen dazu erziehen, der Realabzug einer kindlichen Projektion zu sein. Das ist schlicht eine unmögliche Anforderung.
Deshalb kommt als nächstes, wenn die Beziehung auch die Phase der Umerziehung überlebt hat, die Phase der Arbeit an der Beziehung. Hier enden die sicheren Prognosen und beginnt die eigentliche Arbeit. Die Partner müssen feststellen, herausarbeiten, klären: Was können wir miteinander, was nicht? Was geht, was geht nicht? Was gibst du mir, was nicht? Wo muss ich dich sein lassen, wie du bist, und mir das, was ich brauche, anderswo holen? Reicht uns das, was wir haben, um zusammenzubleiben? Wieviel ist mir das Wert, was ich kriege, auf was müsste ich verzichten, wenn ich dich nicht hätte?
Vielleicht kommen in solchen späteren Phasen auch negative Projektionen auf – eine Art Umkehrung oder „Rache“ für die rosaroten Projektionen des Anfangs. Wir entdecken Züge am Partner, die wir gerade nicht ertragen, mit denen er unsere tiefsten Ängste und Ablehnungsreaktionen weckt. Auch solche Züge nehmen wir gern vergrößert wahr, es greift hier dasselbe Prinzip wie bei den Positivprojektionen am Anfang. Der Mensch ist so gestrickt, dass er im Guten wie im Schlechten auf den Bahnen wahrnimmt, die sich in seinen frühen Erfahrungen eingegraben haben.
Die Aufgabe ist nicht leicht. Wenn man uns am Anfang gefragt hätte, hätten wir uns auf eine Aufgabe dieser Schwierigkeit vielleicht gar nicht eingelassen. Aber Gottseidank hat uns niemand gefragt, und irgendwann stehen wir dann da und müssen mit der eingebrockten Problemsuppe zurechtkommen. Niemand hat uns am Anfang das Kleingedruckte zu lesen gegeben, und niemand hat dafür gesorgt, dass wir geschäftsfähig sind. Deshalb haben wir es hier letztlich doch nicht mit dem Geschäftsbereich der Juristen, sondern mit dem der Psychologen und Paartherapeuten zu tun.