
Ein berühmter Dichter – ich glaube, es war Max Frisch – hat einmal gesagt: Wenn man jemanden liebt, darf man ihn nicht nach einem Bild wahrnehmen, das man von ihm hat. Man muss ihn frei, offen und unvoreingenommen sehen, so wie er wirklich ist. Sobald man anfängt, ihn nach einem bestimmten Bild zu sehen, hat man ihn schon verloren, sieht und lebt und liebt man an ihm vorbei.
So schön und rein und reif das klingt: Es ist Quatsch, psychologisch und paartherapeutisch gesehen, jedenfalls wenn es ums Sich-Verlieben geht. Tatsächlich projizieren wir immer in den Partner, sonst würden wir uns nicht verlieben. Die Frage ist nur: was wir projizieren und was im Weiteren daraus wird.
Was geht in uns vor, wenn wir uns verlieben? Wir haben das Gefühl: „Das ist der Mensch, der mir das gibt, was ich in meinem tiefsten Inneren brauche.“ Was das ist, was wir brauchen, ist von Mensch zu Mensch ganz verschieden, und es ist großteils unbewusst. Für manche Menschen mag es sein: „Das ist der Mensch, bei dem ich mich fallenlassen kann, der mich hält und umfängt und beschützt.“ Für andere kann es sein: „Das ist der Mensch, der mich sieht und würdigt und bewundert, der Mensch, durch den ich strahlen kann.“ Für wieder andere kann es sein: „Das ist der Mensch, den ich retten kann, der unter meiner Hand aufblühen und gedeihen wird.“ Für wieder andere kann es sein: „Das ist der Mensch, der mir Freiraum gibt, der mich nicht bedrängt und mich so sein lässt, wie ich bin.“ Usw. usf.
Die Fähigkeit des Anderen, uns dieses gewisse Etwas geben zu können, ist immer teils real und teils projiziert. Einerseits nehmen wir etwas wahr, was der Andere wirklich hat, wir reagieren auf einen real vorhandenen Zug an ihm. Andererseits nehmen wir diesen Zug aber vergrößert wahr, weil er eine tiefe Sehnsucht in uns anspricht, die letztlich aus einer kindlichen Erfahrungsschicht stammt.
Unsere Sehnsüchte sind ein Abdruck unserer bisherigen Beziehungserfahrungen. Wir haben gelernt, bestimmte Beziehungsformen zu suchen und zu begehren, weil sie uns befriedigende Erlebnisse verschafft haben; wir haben gelernt, bestimmte Beziehungsformen zu fürchten und zu meiden, weil sie uns schmerzhafte Erfahrungen beschert haben; und wir haben bestimmte Beziehungsformen vermisst, die wir gebraucht und gern gehabt hätten. In jedem Fall hängt es von unseren eigenen Wünschen, Bedürfnissen, Sehnsüchten ab, welche Züge am Anderen uns zum Anspringen bringen und uns in emotionale Schwingung versetzen. Es ist unsere eigene Resonanzfähigkeit, die uns in den Zustand der Verliebtheit versetzt – so wie eine Gitarrensaite durch Töne einer bestimmten Frequenz zum Schwingen gebracht werden kann.
Ein gewisser Anteil an Projektion ist also nicht vermeidbar, sonst würden wir uns nicht verlieben. Wenn wir uns so in Schwingung versetzen lassen, dass wir uns verlieben, dann sind irgendwelche tiefen Schichten in uns angesprochen, irgendwelche tiefen Saiten in uns angeschlagen. In Abwandlung des berühmten Satzes von Paul Watzlawick – „Man kann nicht nicht kommunizieren“ – kann man sagen: Beim Sich-Verlieben kann man nicht nicht projizieren. Die eigentliche Frage ist, was wir später aus unseren Projektionen machen, wie wir im Weiteren damit umgehen (s. dazu die nächsten beiden Einträge). Die Vorstellung, dass Liebe ohne Projektion möglich sein sollte, ist ins Reich der Dichtung zu verweisen. Psychologie ist, im Vergleich zu Dichtung, ernüchternd und entzaubernd, sie ist für große Worte und herzerwärmende Visionen nicht zu haben.
Andererseits sagt uns die Psychologie, dass wir uns der Projektion ruhig eine Weile überlassen können. Sie hält sowieso nicht ewig, die Projektionen fangen früher oder später an zu bröckeln. Es kommt darauf an, was man dann damit macht – nicht darauf, sich von Anfang an die rosarote Brille abzusetzen und nur noch durch die Fensterglasbrille auf die Welt zu schauen. Seltsam, wie ein Dichter uns Fensterglasbrillen empfehlen und dabei noch nach Pathos klingen kann.