Schimpfen und Schämen beim Autofahren

Wenn es für jeden Fluch und jede Beleidigung, die Verkehrsteilnehmer gegeneinander loslassen, einen Cent gäbe, würden die Deutschen jeden Tag Millionen verdienen. Die meisten Menschen sind ja an sich freundliche und zugängliche Zeitgenossen, aber im Straßenverkehr wird der Mensch zu des Menschen Wolf, oder zu des Menschen übelstem Beschimpfer. Das hat sicher damit zu tun, dass man hier anonym und hinter einer Blechhülle verschanzt ist, aber das erklärt noch nicht die Energie und Explosionskraft, die hinter diesen millionenfachen Aggressionen steht.

Meine Hypothese ist, spontan und ungedeckt durch irgendwelche Daten, dass es sich bei dieser Triebkraft in den meisten Fällen um Scham handelt. Scham ist eine starke Kraft im menschlichen Leben, die aber meist unentdeckt und gut getarnt daherkommt und weder von demjenigen selbst noch von den Situationspartnern richtig erkannt wird. Im Straßenverkehr sieht das etwa so aus: Man hat irgendeinen kleinen Fehler gemacht – irgendeine Hauseinfahrt nicht gesehen und versehentlich blockiert, irgendeine Geschwindigkeit falsch eingeschätzt und jemanden zum Abbremsen genötigt, irgendeine kollidierende Bewegungslinie nicht vorhergesehen –, also man hat irgendetwas getan, was dem eigenen Selbstbild als souveräner, kompetenter Verkehrsteilnehmer zuwiderläuft. Man schämt sich dafür, aber weil man sich nicht schämen will und dieses Gefühl, bevor es richtig da ist, wegkriegen will, schimpft man statt dessen auf den so fetischistischen / so ungeduldigen / so kleinlichen/ … Verkehrsteilnehmer, der sich daran stört und einen zur Ordnung ruft.

Es kommt laufend vor im Verkehr, dass man irgendetwas übersieht, weil Verkehr – jedenfalls Stadtverkehr – ein hochkomplexes, viel geistige Prozessorkraft forderndes Geschehen ist, so dass es logisch ist, dass man ihm nicht immer zu hundert Prozent gerecht wird. Das wollen wir uns aber nicht eingestehen, oder viele von uns wollen sich das offenbar nicht eingestehen, es wäre eine Kränkung zu sagen, „Ja stimmt, da habe ich was nicht gesehen“, und dann greift der Scham-Schimpf-Mechanismus.

Scham ist ein sehr schmerzhaftes Gefühl, ein Gefühl, das uns ganz mit uns allein lässt und den stärksten Testosteronbullen bricht – oder gerade den, weil er mehr zu verlieren hat. Interessant daran ist, wie leicht und an wie oberflächlichen, eigentlich harmlosen Punkten Scham auszulösen ist. Dass wir uns schämen, wenn wir in der Firma ein vielgepriesenes Projekt an die Wand gefahren haben, oder wenn wir nach zwanzig Jahren unsere Ehe an die Wand gefahren haben, kann man verstehen. Aber wir schämen uns offensichtlich auch dafür, beim Abstellen des Autos einen an dieser Stelle durchmüssenden Lieferwagen übersehen zu haben, so sehr, dass wir dem nicht ins Auge sehen können und stattdessen lieber den Lieferwagenfahrer anmotzen.

Die zweite Triebkraft hinter den täglichen Verkehrsaggressionen ist vermutlich, weniger überraschend,  das Bedürfnis, irgendwo anders herrührende und aufgestaute Frustration abzulassen. Man hat Stress in der Arbeit, oder in der Beziehung, man ist grund-genervt, die Nerven liegen blank, die Neuronen im Hirn stehen auf Alarm, und dann braucht einer an der Ampel zwei Sekunden zum Losfahren und erlaubt einem, Dampf abzulassen. Es würde statt dessen auch ein Boxsack oder ein Vesuv-Ritual tun. (Letzteres ist ein Aggressionsspiel, bei dem die Mitglieder einer Familie oder eines Teams sich zusammensetzen und jeder sich zwei Minuten lang ausbruchsartig auskotzt über alles, was ihn an diesem Tag genervt hat.)

Als dritte Kraft schließlich fällt mir ein, dass sich im Straßenverkehr die tief gehegte Überzeugung mancher Menschen bestätigen lässt, dass die Welt schlecht ist, die Menschen dumm sind und die Gesellschaft falsch eingerichtet ist. Eine solche Überzeugung zu haben, ist nicht schön, aber es kann die relativ beste Lösung sein, gegeben etwa die folgende biographische Erfahrung: Man ist irgendwann als Idealist in die Welt gestartet, im Glauben an das Gute oder an die Möglichkeit, die Welt zum Guten zu verändern, und ist damit gescheitert, warum auch immer (egal auf welchen Ebenen: beruflich, politisch, persönlich, was immer). Das ist schwer zu ertragen, gerade weil der Grundimpuls ein positiver war, und es bringt dann Erleichterung, die Erfahrung der Schlechtigkeit der Welt zu verallgemeinern: „Nicht nur mich hat die Welt abblitzen lassen mit meinen guten Absichten, sie ist so durch und durch schlecht, dass überhaupt nichts zu retten ist.“

Wenn dann jemand kommt und sich in einer Weise verhält, die bestätigt, dass er schlecht, dumm und überhaupt unwürdig ist, sich auf dem Erdball zu bewegen – etwa: wenn er langsam, suchend und zögerlich durch eine Straße zu fahren wagt, die man auch schneller befahren könnte –, dann kann ich mich darin bestätigt sehen, dass mit der Welt ohnehin nichts anzufangen ist und dass jeder vernünftige Mensch darin am falschen Ort ist. Die Narbe des Scheiterns tut dann weniger weh.

Es ist tragisch, aber für manche Menschen gilt: Die Welt muss schlecht sein, damit sie seelisch im Gleichgewicht sind. Der Hypnotherapeut Ortwin Meiss hat einmal gesagt: „Wenn du einen Groll schiebst, und dann kommt jemand mit einer guten Nachricht, dann stört dich das!“ Und genauso gilt eben umgekehrt: Wenn du einen Groll schiebst, und dann kommt ein Idiot auf der Spur neben dir vorbei, der keine Ahnung vom Autofahren hat, dann freut dich das, oder dann beruhigt dich das und tröstet dich, und du bestätigst dein Weltbild, indem du ihn wissen lässt, dass er der Idiot ist, der er ist.

So kommt im Autoverkehr auf überraschende Weise das zutage, was uns im Innersten bewegt. Ich habe einmal gehört, das Tolle an neugeborenen Kindern sei, dass sie ganz für sich und gleichzeitig ganz für Andere sind (Hegelianisch gesagt), dass sie ihr inneres Empfindungsleben ganz offen und ungefiltert auf dem Gesicht tragen, weil sie noch ganz in sich selbst befangen sind und eben deshalb komplett offen lesbar für die Anderen sind. Ich glaube manchmal, der Autofahrer ist strukturell genauso. Er ist ganz für sich – jeder allein in seiner Blechkapsel –, und eben deshalb lässt er sein ganzes inneres Gefühlsleben ungebremst nach außen ab, so dass es sich in Kommunikation übersetzt und für den interessierten Anderen lesbar wird.

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Ein Kommentar zu “Schimpfen und Schämen beim Autofahren

  1. Aber der deutsche Autofahrer steigt nicht aus, um mit dem vermeintlich im Unrecht befindlichen Verkehrsteilnehmer zu diskutieren, ihm womöglich Prügel androhend. Sowas kommt hier in Norditalien schon mal vor. Ich las gerade auch einen interessanten Beitrag einer Deutschen, die in Süditalien lebt, und die die typischen Aggressionen beim Autofahren mit einer günstigen „Therapie“ vergleicht. Da kann man seinen Dampf ungesühnt ablassen. Und fühlt sich vermutlich hinterher besser.

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