Selbstwirksamkeit im Schnee (und sonst im Leben)

Als Bewohnerin des schneebeschenkten Süddeutschland habe ich heute begriffen, warum ich gern Autos aus dem Schnee schiebe. Das tut man ja als netter Mensch, wenn man sieht, wie ein ausparkendes Auto mit durchdrehenden Rädern auf der Stelle röhrt und den halben Meter bis zur festen, Griff bietenden Oberfläche nicht schafft. Ich habe immer gedacht, das hätte was mit Solidarität und Gemeinschaftsgefühl zu tun, und das hat es natürlich auch: Die Naturgewalt der Schneemassen bringt uns als Menschen zusammen, sie bewirkt, dass völlig Fremde einander helfen und sich gegen die Widrigkeiten der äußeren Umstände zusammentun.

Es ist aber noch etwas anderes dabei, und das ist die Freude an der eigenen Selbstwirksamkeit. Es bereitet mir einfach unmittelbar und ganz in mir selbst ein ungeheures Vergnügen zu sehen, wie ich wirksam werde, wie ich einen Unterschied mache, wie dieses Auto sich bewegt und seine Räder Halt finden und es vorwärts kommt, wenn ich mich im richtigen Moment dagegenwerfe. Es ist immer wieder faszinierend zu erleben, dass ich mit meinen 65 Kilogramm Körpergewicht ein Auto von einer halben Tonne bewegen und aus einer misslichen Lage befreien kann.

Selbstwirksamkeit ist etwas ganz Wichtiges im Leben, an allen möglichen Stellen und in allen möglichen Varianten. Man sieht das zum Beispiel an kleinen Kindern und der Begeisterung, mit der sie Bauklotztürme umwerfen, oder auch sonstige Bauwerke aus egal welcher Gattung Spielzeug zerstören. Sie tun das ja nicht aus Destruktivität, auch wenn das von den Geschwistern natürlich so erlebt wird. Was sie treibt, ist aber nicht die Lust an der Zerstörung und an der Negativität, sondern das zutiefst positive Erleben: „Ja, ich kann das! Ich strecke die Hand aus, und dieses Riesending fällt um!! Ist das nicht sagenhaft!!!“ Das wollen sie immer wieder erleben, und deshalb ist ihr Dasein in einem bestimmten Alter von einer Spur der Zerstörung gesäumt – bis sie alt genug sind, um auch auf konstruktive, erbauende, gestaltende Weise wirksam zu werden.

Selbstwirksamkeit ist, so lehrt der Soziologe Clemens Albrecht, auch essentiell im politischen Leben. Politikverdrossenheit kommt ihm zufolge daher, dass man in einem großen, abstrakten, anonymen, in unübersichtlichen Wirkungsketten sich verlaufenden Politikbetrieb das Gefühl der eigenen Selbstwirksamkeit verliert. Umgekehrt kann politisches Engagement und eine basale politische Zufriedenheit ihm zufolge dadurch zurückgewonnen werden, dass Menschen Möglichkeiten der Selbstwirksamkeit und der Mitgestaltung eröffnet werden. Das Problem an dieser Stelle ist genau, meiner Meinung nach, dass das eben strukturell und realistisch gesehen kaum möglich ist, weil politische Partizipationsmöglichkeiten in unserem hochkomplexen Politiksystem in der Regel eher auf eine ergebnislose Absorption von politischen Energien hinauslaufen. Das ist der tiefere Sinn oder die tiefere Funktion von Runden Tischen, Demonstrationen, Petitionen usw., dass sie politische Proteste und Unzufriedenheiten aufsaugen auf eine Weise, wo sie sich auf unschädliche Weise austoben können, also Revolutionen verhindert werden und das System insgesamt stabil gehalten wird, aber eben gerade nicht das passiert, was die Demonstrierenden und Partizipierenden verlangen (was schon deshalb nicht geht, weil diese ja in ganz verschiedene Richtungen demonstrieren und partizipieren). Für den Einzelnen entsteht nicht das Gefühl, wirksam geworden zu sein und den Lauf der Welt verändert zu  haben, sondern eher das Gefühl, dass seine Energien versickern und ins Nichts verlaufen.

Wenn das so ist, wo und wie im Leben kann man dann gute, befriedigende Selbstwirksamkeit erfahren? Die rein physikalisch-körperliche Variante der umzuwerfenden Türme und anzuschiebenden Autos bietet sich zu selten an, in unserer hochtechnisierten und entkörperlichten Welt (obwohl sie in der Variante des Vandalismus durchaus auch noch Anhänger unter Erwachsenen findet). Die Variante, die aus psychologisch-therapeutischer Perspektive naheliegt, ist die der erhöhten Selbstwirksamkeit in der Beziehungsgestaltung mit anderen Menschen, oder auch in der Selbstbeziehung. Leider ist sie nicht ganz leicht zu erlernen und ist auch durchaus anstrengend, ist aber, wenn es klappt, sehr befriedigend.

Was Beziehungsgestaltung angeht, kann das eine von zwei Aktionen erfordern, je nach dem. Manchmal geht es darum, sich nicht als passives Opfer der Launen und Macken Anderer zu erleben und, statt sich darüber aufzuregen, was Andere einem zumuten, selbst das Heft des Handelns in die Hand nehmen. Die Haltung ist: „Es kann ja sein, dass der Chef / die Kollegin / der Bruder / die Partnerin / der Ex-Mann … ein Idiot ist, aber was kann ich tun, um die Dinge voranzubringen?“ Um etwa einen Schritt auf den Anderen zuzugehen und sinnvolle Angebote zu machen, oder umgekehrt: um klarere Grenzen zu ziehen und klarere Neins zu sagen, oder um die eigentlichen Knackpunkte zu formulieren statt zu umschleichen, – was es halt braucht. Auch in Situationen, in denen der Andere sich wie ein Idiot verhält, ist es möglich, sich klüger oder weniger klug, geschickter oder weniger geschickt, weiser oder weniger weise zu verhalten, und Selbstwirksamkeit heißt, auch hier noch mit kühlem Verstand und und unerschrockenem Mut die eigenen Moves zu wählen.

Manchmal geht es aber auch umgekehrt um die erleichternde Erkenntnis: „Nein, es lag jetzt nicht an mir, dass dieses Gespräch schiefgegangen ist / dieser Abend langweilig war / diese berufliche Beziehung sich in eine Sackgasse manövriert hat, ich habe hinreichend Gutes eingebracht, und wenn es trotzdem doof gelaufen ist, war es nicht meine Schuld.“ Dann braucht man sich nicht diffus schlecht und beschämt und verantwortlich zu fühlen, sondern kann überlegen, welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind, dass es doof gelaufen ist, beispielsweise sich die Frage stellen, ob und in welchem Maß man den Kontakt fortsetzen will, und das ist ja auch eine Art, sich wirksam werden zu lassen.

Das sind zwei gegenläufige Aktionen, in gewisser Weise, und was wann angebracht ist, ist nicht ganz leicht zu wissen. Manchmal ist es aber möglich zu wissen, und allein sich diese Frage zu stellen, bringt einen oft schon einen ganzen Schritt voran.

In Bezug auf das Selbstverhältnis kann Selbstwirksamkeit ebenfalls in zwei Richtungen gehen (die nicht dieselben sind wie die zwei obigen, aber sicher irgendwie in Beziehung dazu stehen, ich weiß nur nicht wie – wenn es jemand weiß, möge er es mich wissen lassen). Manchmal geht es darum, sich selbst zu kontrollieren und einzuregulieren, seine eigenen inneren Reaktionen unter Kontrolle zu kriegen, sich etwa zu sagen: „Nein, da geh ich jetzt nicht hin, in diese Aufregung, in die ich mich jetzt werfen könnte, / in diese Selbstzweifel, die sich unbegrenzt hochsteigern, wenn ich mal anfange, / in dieses kindlich-unreife Bedürfnis, das in mir schreit – da will ich gar nicht hin, da hab ich gar keine Lust drauf, also lasse ich es und tue statt dessen etwas anderes.“ Das ist extrem schwer, in der Situation, in der akut irgendein Auslöser auf uns einwirkt und irgendein Affekt heranrollt, aber manchmal geht es, und wenn es geht, fühlt es sich unheimlich gut an. Das ist die hohe Kunst der Selbstbeherrschung, die aber wohlgemerkt nicht nach äußeren Kriterien zu üben ist – Ist das erlaubt oder erwartet oder sozial erwünscht? –, sondern nach einer inneren Stoppregel, die da lautet: Das muss ich mir jetzt nicht antun.

Aber auch hier steckt Selbstwirksamkeit manchmal auch in der Gegenmöglichkeit, nämlich hier in der Möglichkeit, an manchen Punkten aufzuhören, gegen die eigenen Reaktionen und Tendenzen anzukämpfen, etwas anderes sein zu wollen, als man ist, und sich zu sagen: „Ja, so bin ich, das ist ein Teil von mir, wenn er mir auch nicht gefällt, ich nehme ihn an und sehe, wie ich das Beste daraus machen kann“. Aufhören, gegen die eigenen inneren Tendenzen zu kämpfen, ist ein wunderbares Mittel, um Kraft zu sparen und sich selbst zu entlasten und Wirksamkeit zu entfalten, oft in Richtungen, die man sich vorher gar nicht hätte erträumen können.

Und wieder ist die Preisfrage: Was ist wann richtig? Das herauszufinden, kann – leider? – jeder nur für sich selbst machen. Es gibt keine allgemeinen Rezepte dafür, was aber auch logisch ist, denn wenn es anders wäre, wäre es um die Selbstwirksamkeit schlecht bestellt.

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2 Kommentare zu „Selbstwirksamkeit im Schnee (und sonst im Leben)

  1. Was für ein wunderbarer Text! Vom Schnee zur Politik, zum Kleinkind über Partnerschaft und Beruf hin zum Besserfühlen mit den inneren Kämpfen. Danke dafür! Made my das.

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  2. „die nicht dieselben sind wie die zwei obigen, aber sicher irgendwie in Beziehung dazu stehen, ich weiß nur nicht wie – wenn es jemand weiß, möge er es mich wissen lassen“

    Da ich jemand bin, der auch gerne mal seine Selbswirksamkeit erlebt, probiere ich mich mal in einer verkürzten Antwort, indem ich Deine Erklärungen mit eigenen Worten nochmal wiedergebe. In dieser Interpretation werden – so denke ich – die Korrelationen sichtbar:

    Interpersonell:
    – Ich übernehme die Führung (für den nächsten Schritt)
    – Ich übernehme nicht die Verantwortung (für die Fehler anderer)
    Intrapersonell:
    – Ich trete in Aktion (und mache den nächsten Schritt)
    – Ich akzeptiere mich (und muß nicht handeln, um die Fehler anderer zu korrigieren bzw. um Verantwortung zu übernehmen.)

    👍🙏🤗

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