
Wie ändert sich der Mensch? Das ist natürlich eine zu pauschale und zu umfassende Frage, deshalb stelle ich sie noch mal besser zugespitzt: Ändert sich der Mensch mehr über Verstand und Einsicht oder mehr über Tun und Machen? Es gibt beide Sichtweisen, und ich finde, für beide spricht ungefähr gleich viel. Ich gebe keine Empfehlung ab, sondern lasse sie beide mit ihren je (für mich) überzeugendsten Darstellungen zu Wort kommen.
Auf der einen Seite gibt es die Sicht, dass der Mensch – als ein vielschichtiges Wesen aus Körper-Nerven-Geist – am besten über konkretes Tun lernt und die tiefere Einsicht dem dann folgt. So schreibt der amerikanische Familientherapeut Paul F. Dell: „Wenn wir (egal warum) ein bestimmtes Verhalten wiederholt ausführen, ändert sich die Ordnung unseres Selbst und passt sich ein Stück weit diesem Verhalten an. Im Westen haben die Menschen dafür meist kein Verständnis, im Osten aber schon. Das zeigt sich besonders an der Haltung beim Erlernen neuer Fähigkeiten oder Kunstfertigkeiten, was naturgemäß damit verbunden ist, dass man eine bestimmte Aktivität wiederholt ausführt. Menschen im Westen üben (ein Musikinstrument, eine Sportart, o.ä.), um eine bestimmte Fähigkeit zu erwerben. Diese gilt als frei verfügbares Werkzeug des Selbst. Im Osten dagegen wird geübt, um das Selbst des Übenden zu formen. Sich einer Disziplin oder Übungsroutine zu unterwerfen, bewirkt eine Änderung des Selbst und addiert nicht einfach eine neue Fähigkeit zu dem bestehenden Selbst hinzu.“
Entsprechend gilt bei manchen Psychologen der Grundsatz: Die Einsicht folgt dem Handeln. Man muss nicht erst revolutionäre Umstellungen in Selbstverständnis, Selbstverhältnis, Erforschung der eigenen Geschichte leisten, um im Leben etwas zu ändern – man kann einfach anfangen es zu tun, sei’s auch verstärkt durch äußere Anreize, und die entsprechenden Gewohnheiten und inneren Haltungen werden sich dann nachentwickeln.
Für Kinder gilt das ganz sicher. Kinder haben noch wenig Einsicht, und bei ihnen läuft Wachstum, Entwicklung und Selbstbildung ganz vorrangig übers Tun. Deshalb ist die Ansage „Du sollst doch selbst einsehen, dass du dir die Zähne putzen sollst / dass du auch mal mithelfen sollst / …“ bei Kindern gewöhnlich aussichtslos, und statt dessen müssen Eltern ihnen lange Jahre Hilfe bei der äußeren Disziplin geben, bis sie irgendwann die innere Haltung dazu entwickeln. Aber Kinder sind eben auch erst kleine Menschen, und in gewisser Weise noch nicht voll entwickelte Menschen. Bei Erwachsenen ist manches anders, und deshalb mag hier durchaus manchmal das Umgekehrte gelten.
Menschen leben – jedenfalls mehr als andere Lebewesen – vom Geist her, ihr Leben ordnet sich vom Sinn her. Sie sind keine Maschinen, oder wenn dann Maschinen mit Selbstbeobachtungs- und Selbststeuerungsfunktion. Das gilt sogar für Sex und sexuelles Erleben, als eine der animalischeren Ebene, die der Mensch bewirtschaftet: „Zu den wichtigsten Geschlechtsorganen gehört die Phantasie“, sagen kluge Leute. Diese Geistnatur des Menschen gilt es auch zu beachten, wenn man Ansatzpunkte für Veränderung finden will.
Deshalb geht die andere Schule von Psychologen von dem Grundsatz aus: Menschen neigen dazu, zu den Geschichten zu werden, die sie sich über sich selbst erzählen. Diese Geschichten – Selbstverständnisse – kann man auf vielfältige Weise abwandeln, ohne sie komplett umzuschreiben, was eher nicht geht: Man kann ihnen neue Pointen geben, neue Schichten von Verständnis, neue Rahmungen, man kann nach unten (tiefere Schichten) oder nach außen (mehr ineinandergeschachtelte Rahmen) oder nach vorne (neue Zukunftsoptionen) Dinge hinzufügen. Wenn uns das gelingt, ändert sich irgendwann, allmählich und ungezwungen, auch unser Verhalten, denn „dieselben“ Dinge sind dann nicht mehr dieselben, neue Möglichkeiten und Erfahrungsräume werden sichtbar, oder alte verlieren ihren Schrecken.
Diese Haltung setzt auf innere Prozesse, die ihren eigenen Rhythmus haben und gar kein Handlungskorrelat im Außen haben. Sie „betont das Wachsen- und Reifenlassen und kann sich mit dem Produzieren von Verhaltensweisen gar nicht anfreunden.“ (Franz Kemper) Die reine Verhaltensänderung ändert so gesehen nicht viel und bleibt meist ein kurzfristiger Erfolg. Solange sich unsere innere Sinnordnung nicht ändert, kehren wir immer wieder zu denselben Erlebnisweisen, Erwartungsmustern, Sinnattraktoren zurück. Erst wenn man neue Geschichten, neue Verstehensschlüssel zu sich (oder Anderen) hat, ordnen sich die Dinge anders und können ernsthafte Änderungen greifen.
Ich glaube: Was nun richtig ist, kann man nicht sagen. Die Frage ist eher: Was ist wann dran? Wann wollen wir eher im Innen, wann im Außen unterwegs sein? Und natürlich: Inwiefern wollen wir uns überhaupt ändern, wo wollen wir etwas ändern, und wo wollen wir bleiben, was wir sind? Das muss sich überhaupt nicht ausschließen. Das ist nämlich das Schöne am Menschen: Was immer er ist, er ist bestimmt keine Null-Eins-Funktion, er ist komlex, widersprüchlich und überdeterminiert, weniger technisch gesagt: Er macht mal dies und mal das und kann sich aus vielem wichtige Anregungen, Erfahrungen, Übungen holen. Oder mit Günter Schiepek: „Der Wandel ist eine Tür, die nur von innen geöffnet werden kann.“
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