Musterbrechen

Der Mensch lebt in einem Universum voller Möglichkeiten, das er sich aber für den täglichen Gebrauch auf sehr wenige Bahnen, manchmal eine einzige Bahn runterreduziert. Das muss er tun, weil er ein Sinntier ist: ein Wesen, das in einem Sinnuniversum lebt, und Sinn hat die Eigenschaft, dass er fast unbegrenzte Neukombinationen zulässt, viel weniger feste und verlässliche Kopplungen kennt als andere Medien, etwa im Bereich der Physik. Mit einem solchen Überschuss an Möglichkeiten können wir aber nicht umgehen, weil uns dafür die Rechenkapazitäten fehlen. Wie die Sozialkonstruktivisten Peter L. Berger und Thomas Luckmann sagen: Man kann auf tausenderlei Art Essen zubereiten, Tabak rauchen oder seinem Partner Guten Morgen sagen, aber wir wählen normalerweise immer wieder dieselbe Art, weil es viel zu mühsam wäre, jedes Mal von Neuem darüber nachzudenken.

Reduktion von Möglichkeiten, anders gesagt: Erwartungsbildung und Festlegung auf etwas Bestimmtes, sind also notwendig und unausweichlich. Ohne sie könnten wir nicht leben. Es gibt böse Experimente, die diese Eigenschaft des Menschen aufspießen und kritisch „enttarnen“, mit der wohlklingenden aber unrealistischen Annahme im Hintergrund, dass man doch mehr vom Leben hätte, wenn man sein Herz öffnen und vorurteilsfrei alles um einen herum Geschehende aufnehmen und auf sich wirken lassen würde. Es gibt etwa ein Experiment, in dem ein weltberühmter Geiger extrem schwierige Stücke von Bach in einer New Yorker U-Bahn Station spielt, wofür man, wenn man es im Konzerthaus anhören würde, Hunderte von Dollars bezahlen müsste. Es bleibt aber kein Passant stehen, weil keiner erkennt, was da geboten wird, und keiner das von einem x-beliebigen Straßenmusikanten unterscheiden kann. Die Kritik lautet: Wie blind und taub sind wir, dass wir uns so was entgehen lassen. Die sinnvollere Einschätzung ist: Es ist klar, dass bei der Einschätzung der Qualität und des Genusswerts von Musik und anderen Geistesprodukten der Kontext eine Rolle spielt, und die Erwartung, dass Menschen kontextfrei oder sogar in bewusst irreführenden, „unpassenden“ Kontexten hochwertige Musik sollten erkennen und schätzen können, ist von Anfang an unsinnig.

Aber manchmal macht es in der Tat Sinn, Erwartungsmuster zu durchbrechen und sich wieder etwas von dem ursprünglichen Möglichkeitspotential der Welt zu erschließen – besonders dann, wenn wir unter einer Situation leiden und von dem eingefahrenen Muster die Schnauze voll haben. Nur ist das oft schwierig. (Von der Schwierigkeit dieses Unterfangens leben die Familientherapeuten dieser Welt.)

Ich halte mich deshalb nicht mit allgemeinen Ratschlägen und Ermutigungen auf. Statt dessen will ich meine drei Lieblingsgeschichten wiedergeben, in denen es Menschen gelingt, in wirklich kreativer Weise Erwartungen zu durchbrechen, dem eingefahrenen Lauf der Dinge ein Schnippchen zu schlagen und etwas ganz und gar Unerwartetes, Irritierendes, Irritation-und-manchmal-Witz-Erzeugendes tun. Es sind Sternstunden des Musterbrechens, wie man sie nicht alle Tage haben kann, die man aber eben deswegen als Anregung und Ermutigung im Kopf haben kann.

Geschichte 1.

Jemand hatte als Kind einen Lehrer, der ohnehin fies war und mit diesem speziellen Kind nochmal besonders fies umgegangen ist, ihn besonders auf dem Kieker hatte. Immer, wenn eine Frage besonders schwer war, nahm der Lehrer ihn dran. Alle in der Klasse wussten: Wenn der Lehrer in diesem Tonfall sagt: „Jaa, wen nehm ich denn heute dran?“, dann würde er ihn aufrufen. Als Kind war er der Situation hilflos ausgeliefert, aber viel später, im Erwachsenenalter und nach langem Nachdenken, fällt ihm eine Reaktion ein, die er hätte zeigen können, um sich weniger hilflos zu fühlen und die Situation zu drehen. Wenn der Lehrer die berüchtigte Frage stellt, hätte er wild mit dem Finger schnalzen und sagen können: „Ich, Ich! Heute will ich mal!“  (Quelle: Bernhard Trenkle)

Geschichte 2. 

Eine magersüchtige Patientin kommt in die Praxis eines Therapeuten, lässt diesen aber nicht an sich ran, sondern beantwortet alle Fragen in einem sachlichen und präzisen, kühlen und unnahbaren Ton. Der Therapeut bemüht sich, einen Zugang zu finden, aber sie lässt ihn abblitzen. Am Ende der Stunde fragt sie mit scharf beobachtendem Blick: „Was kriegen eigentlich Therapeuten, wenn eine Behandlung scheitert?“ Der Therapeut fühlt sich gequält und in eine Ecke getrieben, nämlich in die Ecke der kassenrechtlichen Abrechnungsregeln, wo er natürlich auch die erfolglos geleisteten Stunden bezahlt bekommt. Dann fällt ihm die erlösende Antwort ein. Sie lautet: „Schmerzensgeld!“ Diese Antwort, die entgegen der suggerierten Fragerichtung die emotionale Involviertheit des Therapeuten ausspricht (in einem Wort!) und die eigene Berührbarkeit und Verletzbarkeit offenbart, öffnet einen Kontaktpunkt in der Patientin und ermöglicht den Beginn einer sinnvollen Behandlung.  (Quelle: Michael Buchholz)

Geschichte 3.

Eine Dozentin kommt ins Seminar und hat einen Blumentopf, ein paar Tennisbälle, einen Beutel Murmeln, einen Beutel Sand und eine Dose Bier dabei. Sie füllt die Tennisbälle in den Blumentopf und fragt, ob der Blumentopf jetzt voll sei. Die Studenten bejahen. Dann füllt sie die Murmeln in den Topf, die die Zwischenräume zwischen den Tennisbällen ausfüllen. Sie fragt wieder, ob der Blumentopf jetzt voll sei, und die Studenten bejahen wieder. Dann lässt sie den Sand hineinrieseln, fragt dasselbe. Zum Schluss kippt sie noch die Dose Bier hinein. Als die Studenten fragen, was der Sinn des Ganzen ist, erklärt sie: „Ich wollte Ihnen heute zeigen, wie das Leben funktioniert. Man muss das Leben so ordnen, dass die großen, wichtigen Dinge zuerst kommen. Die kleinen Dinge lassen sich danach immer noch einfügen. Hätte ich zuerst den Sand und die Murmeln in den Blumentopf getan, hätten die Tennisbälle nicht mehr hineingepasst. Andersherum schon.“ Die Studenten fragen zurück: „Und was bedeutet die Dose Bier?“ – „Das“, sagt die Dozentin, „soll Ihnen zeigen, dass im Leben immer Platz ist für ein kleines Bierchen.“  

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