
Ich habe eins der klügsten und verrücktesten Büchern des 20. Jahrhunderts gelesen: Gregory Bateson, „Mind and Nature“ (deutsch „Geist und Natur“). Und ich habe über das Problem der Gerechtigkeit in Paarbeziehungen nachgedacht. Und ich habe beschlossen, diese beiden Themen zusammen zu behandeln. Das mag verrückt sein, aber darin passt es gut zu diesem Buch, das erstens verrückt ist und zweitens ein Buch über alles ist. Es arbeitet an dem Projekt, die Struktur der Welt insgesamt zu verstehen, und deshalb kann man seine Weisheiten auch auf alles anwenden. Mein Text ist insofern ein Echo jenes Buches im Kontext meines Arbeitsfeldes, also im Kontext von „Familienknatsch“. Er speist sich aus dem Zufall, dass diese beiden Themen gleichzeitig in meinem Kopf waren, aber das macht nichts, denn: „Evolution und Denken sind beides zufallsabhängige Prozesse“ (Bateson, Mind and Nature, S. 54, 160). Und eine Dosis Verrücktheit kann im Kontext von Familientherapie sowieso nicht schaden.
Ich beginne mit einem ganz subjektiv gewähltem Einstiegspunkt, nämlich mit dem Punkt Großzügigkeit. Wenn wir es schaffen würden, in unseren Paarbeziehungen so großzügig zu sein, wie Bateson im Denken ist, gäbe es kein Problem. Bateson hat eine unglaubliche Großzügigkeit bei der Bewertung anderer Denkgebäude – während viele heutige Geistesarbeiter eher intellektuelle Kleinkrämer sind, die es ganz genau nehmen, keinen Fehler durchgehen lassen und doch nur einen mikroskopischen Erkenntnisgewinn erzeugen. Ich gebe ein Beispiel (für Batesons Großzügigkeit, nicht für den Kleinmut der Kleinmütigen).
Bateson meint, die alten Religionen des Hinduismus, des Totemismus, des Gnostizismus usw. hätten noch ein Bewusstsein von der übergreifenden Einheit der Welt gehabt, einen Sinn für die tieferen Zusammenhänge zwischen den Dingen, der uns über unserem abendländischen Rationalismus verloren gegangen ist. „Verloren ist Shiva, der Tänzer des Hinduismus, dessen Tanz zugleich Schöpfung und Zerstörung, aber insgesamt Schönheit ist. Verloren ist Abraxas, der schreckliche und schöne Gott von Tag und Nacht zugleich … Ich bin überzeugt, dass der Verlust dieses Einheitsbewusstseins ein Denkfehler war. Ich glaube, dass dieser Fehler schwerwiegender ist als all die kleinen Aberwitzigkeiten der alten Weltvorstellungen.“ (Mind and Nature, S. 28)
Bateson war bestimmt nicht in Versuchung, an hinduistische und andere archaische Götter zu glauben. Aber er ist bereit, die Schrägheiten dieser Weltbilder als „kleine Aberwitzigkeiten“ hinzunehmen, um ihre tiefere Weisheit würdigen zu können. Das verstehe ich unter Großzügigkeit: die Fähigkeit und Bereitschaft, über kleine Dellen und Mängel hinwegzusehen, um dafür das Wesentliche zu sehen.
Nun ist es auch in Paarbeziehungen eine enorme Fähigkeit, großzügig sein zu können. Wenn wir in der Lage wären, über die kleinen Dellen und Macken des Partners hinwegzusehen, könnten wir so viel genießen und uns so viel Schönes erschließen, was sonst an der nicht zugeschraubten Zahnpastatube oder den nicht gewaschenen Socken zugrunde geht. Dieses Problem ist ja sprichwörtlich geworden, und natürlich wissen wir auch, warum das so ist: weil die Zahnpastatube oder die dreckigen Socken für größere, beziehungsmäßige Dinge stehen, etwa für „Du machst es dir immer leicht, und ich kann die Lasten tragen“, oder für „Ich bin dir eben egal und du liebst mich nicht“.
Das ist aber nicht Bateson, das ist Watzlawick (s. Watzlawick/Beavin/Jackson, „Menschliche Kommunikation“). Wir sind aber jetzt bei Bateson. Was kann man von Bateson aus zu der Zahnpastatube und den dreckigen Socken sagen? Es geht ja hier um Handgriffe und Dienstleistungen im Haushalt und um die Gerechtigkeitsprobleme, die sie aufwerfen: Wer muss was wann tun, und wer nicht? Wenn man feststellen will, ob es hier gerecht zugeht, stellt sich sofort die Frage, auf welcher Ebene man vergleicht, und Bateson war Spezialist für Ebenenunterscheidungen. Beim Punkt der gerechten Verteilung von Haushaltsarbeit tut sich da ein ganzer Strauß von Möglichkeiten auf.
Auf welcher Ebene also soll man vergleichen, wenn man wissen will, ob die Haushaltsarbeit gerecht verteilt ist?
– auf der Ebene der konkreten Tätigkeit: Wer wäscht wie oft die Wäsche?
– auf der Ebene der Verteilung der Haushaltsarbeit insgesamt: Wer macht wieviel von der Haushaltsarbeit?
– auf der Ebene der Verteilung von Aufgabenpaketen im Leben überhaupt, inklusive Erwerbsarbeit, Kinderbetreuung, Bürokratiebewältigung usw.: Wer macht was in einer komplexen, arbeitsteiligen Welt?
– auf der Ebene der tieferen, psychologischen Plus-Minus-Rechnung (oder Plus-Plus-Rechnung): Was krieg ich von dir, was kriegst du von mir, was können wir uns gegenseitig geben? Es kann ja sein, dass dem einen Partner das Schultern von Lasten und Pflichten leichter fällt als dem anderen, der dafür gut darin ist, Leichtigkeit und Genuss ins Leben zu bringen, und das kann eine insgesamt wohltuende Komplementarität ergeben, jedenfalls solange es nicht in eine immer weiter sich aufschaukelnde, immer extremer werdende Rollenverteilung führt. Es kann dem Pflichtmenschen gut tun, mit einem Genussmenschen zusammenzuleben, und dem Genussmenschen gut tun, mit einem Pflichtmenschen zusammenzuleben, und wie berechnet man dann noch das Gewicht der jeweiligen Lasten und den Wert der jeweiligen Genüsse?
Jedenfalls: Wenn wir versuchen festzustellen, wie gerecht oder ungerecht es in einer Paarbeziehung zugeht, wird die Antwort auf jeder dieser Ebenen anders ausfallen. Und es gibt keine Antwort auf die Frage, welche Ebene nun die „richtige“ ist. Alle sind möglich und keine ist zwingend, und es hängt von uns ab, welche wir wählen, und wir können klug (großzügig) oder unklug und unglückszugewandt (kleinmütig) wählen. Deshalb, wenn wir uns nicht lebenslang ärgern wollen, ist es die beste Entscheidung, uns hier in Großzügigkeit zu üben und im Zweifel die Ebene zu nehmen, auf der wir am besten wegkommen.
Aber das wäre für Bateson fast ein Anfängerproblem. (In der Theorie, nicht in der Praxis.) Gehen wir also zu schwierigeren Gerechtigkeitsfragen über, die sich in Paarbeziehungen stellen können. Hier können wir sogar Bateson mit Bateson konfrontieren, nämlich Batesons Unterscheidung von symmetrischen und komplementären Rollenmustern mit Batesons Großzügigkeit im Denken und Urteilen. („Komplementär“ sind Rollenmuster, wenn beide Beteiligten verschiedene, aber wie Schlüssel und Schloss zueinander passende Rollen innehaben, wie etwa der Pflichtmensch und der Genussmensch. „Symmetrisch“ sind Rollenmuster, wenn beide Beteiligten dieselben Rollen haben oder anstreben und sich dabei oft in Konkurrenzkämpfe verstricken.)
Nehmen wir also folgendes Beispiel eines fortgeschrittenen Gerechtigkeitsproblems. Eine Beziehung sei mit einer leicht komplementären Rollenverteilung gestartet in dem Sinn, dass der eine Partner vielleicht etwas älter ist, beruflich erfahrener, ratschlags- und vorschlagsgewandter, auch geschickter in Sachen Realitätsdefinition, also in der Kunst, für ein soziales System implizit und unmerklich zu bestimmen, was gut und was schlecht ist, was wünschenswert und was problematisch. Der andere Partner hat zunächst kein Problem mit diesem – ohnehin unbewussten und unbemerkten – Arrangement, er fühlt sich gut gesehen und versorgt, fühlt sich in der Beziehung wohl und kann, darauf gestützt, in anderen Bereichen des Lebens seine Stärken ausleben, z.B. Kunst, Kreativität, Theorie, Sport, Freundschaft, Musik, Innovation, … was immer. Wohlgemerkt: das ist eine ganz alltägliche und für sich noch nicht schädliche Rollenverteilung, solange sie bestimmte Grenzen nicht überschreitet.
Nun kommt der zweite Partner irgendwann (warum auch immer, vielleicht hat er Bateson gelesen) zu dem Schluss, dass die Beziehung nicht symmetrisch ist und dass er sie gern symmetrisch hätte. Er wird von nun an versuchen, auch Vorschläge zu machen, auch Ratschläge zu geben oder jedenfalls: die Ratschläge des Anderen nicht mehr anzunehmen, auch in die Realitätsdefinition einzugreifen, auch Probleme zu sehen, Wunschzustände zu definieren, Ereignisfolgen zu interpretieren. Er wird also nicht mehr „mitziehen“ und wird vielleicht den Anderen auf die von ihm implizit beanspruchte Überlegenheitsposition hinweisen. Der Andere wird sich furchtbar angegriffen fühlen und wird entweder mit Gegenangriffen oder mit verständnisloser Verletztheit und Gekränktheit reagieren. Er wird sich ungerecht behandelt fühlen, denn er macht doch nichts anders als bisher, und er wird sich auf das Gerechtigkeitsprinzip des Status quo ante berufen: „Aber bisher war es doch immer so, warum soll es plötzlich falsch sein?“ Sein Partner wiederum wird sich auf ein anderes, über Sozialvergleich statt Zeitvergleich gebautes Gerechtigkeitsprinzip berufen und wird sagen: „Aber ich mache doch nur das, was du machst, wieso darfst du das und ich darf es nicht?“ (Und Sozialphilosophen wie Paartherapeuten wissen, dass es viele verschiedene und im Einzelfall immer inkompatible Gerechtigkeitsprinzipien gibt, von „Jedem das Gleiche“ über „Jedem nach seinen Bedürfnissen“ bis zu „Jedem nach seiner Leistung“.)
Wie löst man so ein höherstufiges Gerechtigkeitsproblem? Ich habe keine Lösung dafür. Aber ich springe nochmal in Batesons Buch und fische mir einen Satz heraus. (Wer bei Bateson fischt, wird immer fündig – erster Kuchler’scher Lehrsatz.) „Meine Vermutung ist, dass unter einem stark genugen Makroskop keine Idee falsch sein kann, keine Absicht bösartig, [und keine Beziehung ungerecht]“ (Mind and Nature, S. 222). Ich weiß nicht, was ein Makroskop ist, aber ich nehme an, es ist das Gegenteil eines Mikroskops, also ein Gerät, mit dem man an ein Objekt nicht immer näher ranzoomt und sich immer weiter reinzoomt, sondern im Gegenteil immer weiter rauszoomt und immer mehr Kontext kriegt.
Das würde für Paarbeziehungen heißen: Die Lösung wäre, sich so weit rauszuzoomen, bis man einen Standpunkt findet, von dem aus man keine Ungerechtigkeit mehr sieht, sondern eine größere Harmonie und Schönheit und Glückspotential – wo man, in großer Entfernung von dem umkämpften Kampfplatz, ein Gegengewicht findet, das einen diesen Kampfplatz aufgeben lässt, das Leid daran relativieren und mit Gegengewichten umgeben lässt, in einen größeren, schöneren, besseren Rhythmus einordnen lässt. Je näher man sich an Probleme ranzoomt, desto unerträglicher werden sie. Aber die Welt enthält immer andere mögliche Rhythmisierungen und Gruppierungen, an die man sich andocken könnte, wenn man die Weisheit und Großzügigkeit und Gelöstheit hätte, diesen Punkt der Welt—diesen Knochen—loszulassen und einen anderen Punkt zu suchen, an dem man glücklicher wäre.
Die Welt besteht sowieso nur aus Gewichten und Gegengewichten, würde Bateson sagen. Das führt er wieder und wieder vor, in seinen geradezu akrobatischen und epistemologisch empathischen Weltversteh-Versuchen. Wenn man ihm einen unverdaulichen Brocken – für ihn als Wissenschaftler unverdaulich – hinwirft, wenn man ihn zum Beispiel nach dem Wert von esoterischen Erfahrungen, außersinnlicher Wahrnehmung und sonstiger parapsychologischer Wundertätigkeit fragt, sagt er nicht: „Quatsch. Aberglaube. Vergiss es.“ Er sagt: Das ist das Gegengewicht zu dem, was der Westen sich an materialistischem Rationalismus in den letzten dreihundert Jahren eingebrockt hat. Er sagt: „Das sind alles Symptome, irrige Anläufe in dem rührenden Versuch, aus einem kruden Materialismus zu entkommen, der uns nicht mehr gut tut. Wunder sind das, worauf das Hirn eines Materialisten verfällt, der seinem Materialismus entkommen will.“ (Mind and Nature, S. 225)
Wie das geht, ein Gegengewicht für das eigene, individuelle Leid in der eigenen Paarbeziehung zu finden, dafür gibt es kein Rezept. Jeder Mensch muss sein persönliches Makroskop dafür selber bauen. Es könnte zum Beispiel sein, dass ich der einzige Mensch auf der Welt bin, der durch das Lesen von Bateson-Büchern seine Beziehung heilen kann. Wenn das so wäre, wäre das ein ganz wunderbarer Platz für mich im Universum: wunderbar verrückt, verkopft, verknüpfungsfähig, verschraubungsfähig, versöhnungsfähig. Aber eben nicht generalisierbar, nicht „skalierbar“. Seinen Lieblingsplatz in der Welt kann jeder nur selber finden. Meiner ist jedenfalls wo, wo es viele Bateson-Bücher gibt.
Zugegeben: Dafür muss man verrückt sein. Es kann sein, dass es viel Arbeit und therapeutisches Zurechtrücken oder Ver-rücken braucht, bis man dafür verrückt genug ist. Wie Freud sagt: „Es kostet viel Mühe, zu sehen, dass man unglücklich ist. Doch es lohnt sich.“ Hier gilt: Es kostet viel Mühe, so viel Verrücktheit zu entwickeln. Doch es lohnt sich.
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Wunderbar – vielen Dank für Deine Verrücktheit – lGe Rudolf LS
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Ja, das war mein bisher verrücktester Blog. Feels good. Im Durchschnitt muss ich wohl vernünftiger bleiben, aber ab und zu meine Verrücktheit in die Welt zu posten, fühlt sich auch gut an.
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Ich glaube, ich muss Herrn Bateson mal wieder zur Hand nehmen. Danke für die Anregung und für den praktischen Gebrauch. Ich fühle mich jetzt wohler auf der Couch, wenn um mich herum gearbeitet wird…:-)) Richtig schön. Überhaupt dein Blog. Prima.
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Ja, Bateson ist wunderbar. Ich glaube ja nicht mal, was er da schreibt, dieses Buch ist voller Holismus, und ich bin keine Holistin, ich bin Systemtheoretikerin. Systemtheorie ist das Gegenteil von Holismus. Aber selbst die Dinge, die ich nicht glaube, schreibt er so gut, dass es mich entzückt.
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