
Es gibt eine entzückende Szene in der Serie „The Wire“, in der zwei Polizisten einen Tatort untersuchen und der komplette Dialog im amerikanischen Original durch ein Piepen ersetzt ist, weil er ausschließlich aus dem Wort „Fuck“ und seinen Derivaten besteht. Außerhalb der USA kann man ihn sich zu Gemüte führen. Er klingt etwa so: „Fuck.“ – „Oh, fuck.“ – „Fuuuuck!!“ – „Fuck.“ – „Fuckety Fuck.“ …
Das ist hier natürlich ein Witz und ein satirischer Angriff auf die prüde amerikanische Zensur. Aber man kann daraus auch etwas über das wirkliche Leben lernen, nämlich dies: Manchmal wird das, was eigentlich der Text ist, nie gesagt – eine ganze Szene lang nicht, oder ein ganzes Paarleben lang nicht. Das passiert immer dann, wenn das, was eigentlich der Text wäre, schlimm genug ist oder unerlaubt genug ist, dass es wegzensiert wird und überlagert wird durch andere Töne und andere Texte, die vordergründig besser erträglich sind.
Die kritische Textzeile kann zum Beispiel sein: „Es tut mir so weh.“ Eigentlich wäre das der Text, den ein Partner – oder beide Partner – sagen müsste, wenn er seinem inneren Erleben möglichst unverfälscht Ausdruck geben würde. Aber dieser Satz wird nie gesagt, denn er würde zu viel Schwäche, Scheitern, Scham in sich tragen. (Alle schlechten Dinge beginnen mit „Sch“, hat mir mal ein Lehrtherapeut gesagt.) Statt dessen ist nur ein darübergelegter Sound zu hören, der in etwa so klingt: „Warum machst du immer … ?!“ „Du tust nie … !“, „Du könntest ja auch mal … !“ Das ist eine häufige Konstellation: Die Verletzung, Enttäuschung, Traurigkeit, die jemand in der Beziehung empfindet, wird weggetarnt mit kleinen Stacheln, kleinen guerrillaartigen Attacken (kurz und unerwartet und mit schnellem Rückzug), oder auch mit einer kalten Schulter und einem schweigsamen, unnahbaren Äußeren.
Die eigentlich empfundene Verletzung wird dabei nicht nur – wie im Film – nach außen weggetarnt, sondern auch und vor allem für den Betreffenden selbst. Verletzung ist ein Gefühl, das Übung braucht, um als solches erlebt werden zu können. Ebenso Enttäuschung angesichts von nicht-erfüllten Erwartungen, was nämlich voraussetzt, dass man sich der eigenen Erwartungen bewusst ist und sie als kontingent, als nicht-selbstverständlich erlebt, statt einfach das Verhalten des Partners als unmöglich zu erleben. Kritisiert man aber, statt eigene Enttäuschung und Verletzung auszusprechen, statt dessen den Partner, wird der dies in den meisten Fällen als übergriffig und unbegründet zurückweisen oder schlicht ignorieren. Die Verletztheit kann darüber zur Bitterkeit werden, vielleicht zu unheilbarer Gekränktheit, und noch immer nicht hat jemand den Satz gesagt, und erst recht nicht gehört: „Es tut so weh.“
Die nicht-gesagte Textzeile kann aber auch lauten: „Ich bin so wütend!!!“ Wut kann ein gefährliches Gefühl sein, und zwar nicht nur für denjenigen, auf den sie sich entlädt, sondern auch für denjenigen, der sie in sich brodeln und rumoren spürt. Denn Wut kann beziehungsgefährdend sein, und wer seine Beziehungen mehr schätzt als seinen Anspruch auf Selbstbehauptung, der wird sich selbst die Wut kleinreden, oder noch besser: sie gar nicht erst erleben, sie im Keim ersticken und runterschlucken, bis sie z.B. als körperliche Störung oder als Depression wiederkehrt. Die Depression ist eine tiefe seelische Finsternis, die so tief ist, dass sie nicht mehr verraten muss, gegen wen sie sich eigentlich richtet.
Was macht die Sätze, die nie gesagt werden, so schlimm, dass sie wegzensiert werden müssen? Das ist entweder ein tiefer Schmerz, eine alte Erfahrung, die uns vorsichtig sein lässt, an bestimmten Punkten uns wegducken lässt, uns verstummen und Augen, Ohren, Mund verschließen lässt. Oder es ist Sozialisation, gesellschaftliche Prägung, etwa auf „Ein Junge weint nicht“, „Ein Mann ist nicht schwach“. Oder es ist einfach fehlende Übung, nämlich fehlende Übung im Sich-selbst-Lesen. Letzteres ist nicht leicht, es setzt feine Ohren voraus, die nach Innen gerichtet werden können und bei Bedarf mit geheimdienstmäßigen Horch-Schüsseln verstärkt werden können, um die verwirrenden Signale aus unserem Inneren zu entschlüsseln.
Warum ist das Spiel so verwirrend? Weil es im echten Leben praktisch unbegrenzte Variationsmöglichkeiten gibt in der Frage, was durch was ersetzt wird, welche Töne oder Texte durch welche anderen überlagert werden. Jedes Gefühl kann zur Tarnung jedes anderen benutzt werden, sagen Psychologen. Im Film würde das heißen: Man könnte nicht nur das Wort „Fuck“ mit „****“ wegtarnen, sondern auch zum Beispiel das Wort „Schatz“ mit „Fuck“, oder das Wort „Ok“ mit „Rantanplan“. Ein Film, in dem das ein paarmal gemacht wurde, wäre in der Tat vielleicht schwer zu verstehen – wenn auch immerhin amüsant.
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