Vollständigkeitsphantasien

Ich hatte kürzlich beiläufig – in einem innerlich unbewachten Moment – die Phantasie, ich könnte alle Bücher dieser Welt lesen und daraus für jeden Zweck die am besten passenden Zitate heraussuchen. Ich könnte damit zum Beispiel diesen Blog noch besser machen, indem ich zu jedem Thema ein wunderbar pointiertes Zitat einbauen könnte, und alle meine anderen Texte auch. Und selbst wenn ich bereit war, den Radius meines Bücherverschlingwunsches einzuschränken auf alle sozial- und geisteswissenschaftlichen Bücher, ist die hoffnungslose Überdimensioniertheit dieses Vorhabens trotzdem putzig und witzig.

Sie ist aber nicht irrsinnig, und sie ist vor allem nicht uninformativ. Jeder Mensch hat – so vermute ich – gelegentlich Vollständigkeitsphantasien oder Perfektionsphantasien, und die Frage ist nur: welche. Mit meiner Art von Phantasie bin ich wohl ein eher spezieller Typ von Mensch, aber andererseits: Sind wir nicht alle speziell? Ich kann mir denken, dass es Menschen gibt, die haben in solchen unbewachten Momenten die Phantasie, sie könnten alle Menschen der Welt umarmen, oder mit allen Männern/Frauen der Welt schlafen, oder alle Autos der Welt besitzen, oder alle Länder der Welt regieren, oder alle Universitäten der Welt reformieren. Ich kenne jemanden, der, als er mit seinem Sohn auf einem Hügel oder Aussichtspunkt stand, den Impuls hatte, die Arme auszubreiten, auf das weite Land bis zum Horizont zu weisen und zu sagen: „Mein Sohn, das wird irgendwann alles dir gehören.“ (Gruß an J. und J.)

Man muss sich übrigens solcher Phantasien nicht schämen. Genauso wie gelegentliche Todeswünsche bezüglich nahestehender Menschen (die man als psychologisch uninformierter Mensch auch mit einem „Uuh!! Das geht aber gar nicht“  quittieren würde) gehören auch gelegentliche Größenphantasien zur Normalausstattung der menschlichen Psyche. Interessant ist eben nur, an welchen Punkten und in welchen Richtungen solche Phantasien, solche Selbsterweiterungs- oder Weltfresswünsche einrasten.

Ich würde gern wissen, was für Vollständigkeitsphantasien andere Menschen so haben. Wer mir eine Nachricht schreibt und seine Phantasie mit mir teilt, kann mir helfen, diesen Blogeintrag vollständiger zu kriegen, als er jetzt ist. Ich lasse ihn jetzt nämlich so stehen, habe aber die Phantasie, dass er mit Hilfe meiner Leserschaft noch runder und vollständiger werden kann.

Hier immerhin ein passendes Zitat zum Abschluss: „Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke!“ (Joachim Meyerhoff)

5 Kommentare zu „Vollständigkeitsphantasien

  1. In meiner Phantasie denke ich manchmal, ich bräuchte keine weiteren Bücher mehr lesen. Alles, was ich brauche, weiß ich bereits. Und was ich nicht bewusst weiß, steht mir zumindest unbewusst über „das Feld“ (Ruppert Scheldrake) zur Verfügung. Damit kann ich zwar nicht mit brillanten Zitaten glänzen, aber ich kann zumindest immer die bestmögliche Entscheidung treffen – zumindest für mich selbst. Das macht mich dann allerdings eher zu einem Außenseiter, als zu einer großartig schimmernden Persönlichkeit. Denn was das beste für mich ist, widerspricht oft den gängigen Idealvorstellungen unserer Kultur. Und begründen kann ich mein Verhalten damit auch nicht, dafür müsste ich dann ja zitieren können.
    So bleibt mir doch nur übrig, mich weiter durch ein Buch nach dem anderen zu fressen (soweit Zeit und Kraft reichen). Zitieren kann ich dann zwar immernoch nicht. So gut ist mein Gedächtnis leider auch nicht. Aber ich kann aus meinen erlernten Verständnis versuchen, mich zu erklären. Das funktioniert und hilft manchmal…
    👍🍀🤗

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    1. Hoch die Außenseiter und nicht-schillernden Persönlichkeiten! Da solidarisiere ich mich sofort.
      Ist es nicht witzig, wie gegensätzlich solche Phantasien sein können. Alle Bücher oder gar keine Bücher, und letztlich läuft es auf dasselbe raus.

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  2. Ich fühle mich sofort angesprochen, wollte als Jugendlicher/junger Erwachsener Bundeskanzler werden um aktiv etwas an den Zuständen der Welt zu ändern.
    Heute möchte ich gerne vier Sprachen fließend sprechen und ein Vermittler sein zwischen Kulturen und Religionen, ein Schnittmengensucher, Verbinder, der die auseinander driftende Welt mit den kleinen Armen zusammen zu halten versucht.

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